Jul 30 2020

Rechte Anarchisten und „Anarchofaschisten“ – von Gobineau zu den Identitären .. 

 

Wer sich heutzutage nicht alles als AnarchIstin bezeichnet/bezeichnen lässt. Das beginnt bei den AltGrünen wie Cohn Bendit über Autonome, sogen. „AntiDeutsche“, Strafrechtsfeministinnen und InsurgentInnen bis hin zu Mitgliedern von Parteien der autoritären SozialistInnen. Alle sehen sich mehr oder weniger nahe bei den AnarchokommunIstinnen,beim Anarchosyndikalismus mit klarer Positionierung gegenüber Rechten und FaschistInnen.
 
Dabei gib es schon seit dem 18.Jahrhundert eine Bewegung, die „Anarchismus der Rechten“ genannt wird, die sich durchaus von den Ideen bzw. Denkern oben genannten Anarchismus beeinflusst fühlt.
 
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1. Rechte Anarchisten
 
 
„Hier, am Ende des 18. Jahrhunderts, in den späteren Stadien des Ancien Régime, bildete sich ein Anarchism de droite, dessen Protagonisten für sich eine Position“ jenseits von Gut und Böse „behaupteten, ein Wille,“ wie die Götter „zu leben. und keine moralischen Werte außer persönlicher Ehre und des Mutes anerkannte. Die Weltanschauung dieser Libertins war eng mit einem aggressiven Atheismus und einer pessimistischen Geschichtsphilosophie verbunden. ..(Sie) hielten den Absolutismus für eine Ware, die sich bedauerlicherweise den Prinzipien des alten Feudalsystems widersetzte und nur dem Wunsch des Volkes nach Wohlstand diente. „Francois Richard
 
 
 
 
 
 
Dieser „rechter Anarchismus“ ist eine individuelle elitäre Revolte gegen die jeweils eingesetzten Mächte, im Namen aristokratischer Prinzipien, gegen die Demokratie, ethische Normen, gegen Egalität. Die vorhandene Gesellschaft wird als dekadent empfunden. Personen wie Arthur de Gobineau später auch der Schriftsteller Luis Ferdinand Celine oder auch Henry de Montherlant gaben dem „rechten Anarchismus“ in Frankreich Profil.Für sie war jede Regierung eine Verschwörung gegenüber dem höheren, dem überlegenen Individuum.
 
Der Mensch ist das böse Tier par excellence. … (Gobineau)
 
Joseph Arthur de Gobineawar ein französischer Diplomat und Schrifsteller. Er ist vor allem bekannt durch das Machwerk „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“. Für ihn entsteht durch Rassenmischung der Zerfall der Gesellschaft, allenfalls die weisse Rasse sei allen „intelligenzmässig überlegen.“ Der Fetisch Intelligenz zieht sich als Autoritätsargument durch die folgenden Jahrzehnte und wird auch heute wieder/noch zum Beispiel von Thilo Sarrazin benutzt, der mir beim Lesen von Gobineaus Aufteilung der Rassen immer wieder in den Sinn kam.Und auch bei Gobineaus Aufstellungen der „sinnlichen“ Überlegenheit der (hier) „Schwarzen“ tauscht Sarrazin sie eigentlich nur gegen die „Muslime“aus.
 
 
 
 
 
 
Die mit dem rechten Anarchismus verbundenen Traditionen und Ideologien finden sich ausserhalb Frankreichs bei den Vertretern der so genannten „Konservativen Revolution“, eine Entwicklung, die sich unter rechten Intellektuellen in Europa manifestierte. Gabriele d‘ Annunzio sei hier genannt oder auch Stefan George in Deutschland. Regelrecht überstrahlt werden diese jedoch von Ernst Jünger, der in seinem Roman „Eumeswil“zum ersten Mal die Bezeichnung „Anarch“ verwendete und sich dabei auf Max Stirners Konzeption des“Egoisten“ berief.
 
Der „Anarch“ ist die weiter entwickelte Figur des „Waldgängers“, die Jünger in dem zuvor geschriebenen Essay „Der Waldgang“ entworfen hatte.
 
 
Der „Waldgänger“ ist so erfindungsreich
den kollektiven Mächten auszuweichen, so aktiv
ihnen Abbruch zu tun. Man hat ihn zuweilen einen geistigen Partisanen
genannt, der seinen Krieg gegen den Kollektivismus auf eigene Faust, Gefahr
und Verantwortung führe. Er will vor keinen Tatsachen kapitulieren,
er ist der Aufständige, Rebell in Permanenz.
 
Er ist der europäische Intellektuelle,
der seine letzte Zuflucht nur noch in der Verwegenheit findet,
sich in jedem Augenblick aufs Spiel zu setzen. Indem er dies tut, ist er
Mann des Widerstandes. Als Mann des Widerstandes ist er der Beschirmer
des Wesentlichen und Eigentlichen, der ewigen Werte, der unvergänglichen
Substanz, des Urgrundes, dem das Echte und Belebende entsteigt.
 
Die kollektive Macht ist demgegenüber die Verfolgerin und Verderberin
aller Schätze menschlicher Tiefe; sie verflacht den Menschen zu einem verödeten
Schablonen-, Normen- und Maschinenwesen. In der „Einsamkeit
des Waldes“ rettet der Waldgänger nicht nur diese hohen menschlichen
Güter; er verteidigt sie und im Bewußtsein seiner Sendung verlernt er die
Angst vor dem Leviathan, der erbarmungslos alles zertreten möchte, was
nonkonformistisch ist….“ (aus: Ernst Niekisch Grundlagen zum „Waldgang“)
Dieser Charakter des „Waldgängers“ wird gerne heutzutage bei Veranstaltungen mit z.B. Sarrazin herausgestellt.
 
Ich bin sehr zufrieden, dass wir Waldgänger uns jetzt mal sozusagen um eine Feuerstelle versammeln, und es gibt, dass weiss ich, in jeder Stadt kleine Klüngel von Waldgängern, es ist eine Pionierstimmung im Land, dass die Unternehmer, die Ärzte, die Anwälte und die Notare und auch hoffentlich die „normalen“ Leute sich zusammenfinden und beraten,wie können wir etwas für unser Land tun. Unabhängig davon ob wir der AFD angehören.. wir müssen aus dem Wald gemeinsam herausgehen damit dieses Land das bleibt, wofür wir es lieben“ ( Krah)
 
 
 
 
 
 
Doch erst einmal zurück zu Ernst Jünger und der Figur des „Anarch“.
Der Anarch ist mehr in sich selbst konsolidiert und der anarchische Zustand ist ein Zustand, der jeder Mensch in sich trägt..er wird nur korrigiert durch die Widerstände von aussen.. ..als Anarch bin ich entschlossen, mich auf nichts einzulassen, nichts letzhin ernst zu nehmen, allerdings nicht auf nihilistische Weise, sonder eher als ein Grenzposten“(Jünger).
 
Er mag vordergründig seinen Dienst tun (loyal sein), aber wenn es zum Letzten kommt, verlässt er sich nur auf sich selbst und seine Tatsachen.
Er kämpft allein als Freier, dem es fern liegt, sich dafür aufzuopfern, dass eine Unzulänglichkeit eine andere ablöst“.
 
Während die (sozialen) Anarchist*innen um die Freiheit für alle ringen, ist für den Anarch die Freiheit sein Eigentum, ist deren „Eigner“
 
.. die »Freiheit« ist und bleibt eine Sehnsucht, ein romantischer Klagelaut, eine … Hoffnung auf Jenseitigkeit und Zukunft; die »Eigenheit« ist eine Wirklichkeit, die von selbst gerade soviel Unfreiheit beseitigt, als Euch hinderlich den eigenen Weg versperrt.
Die Freiheit lehrt nur: Macht Euch los, entledigt Euch alles Lästigen; sie lehrt Euch nicht, wer Ihr selbst seid. Los, los! so tönt ihr Losungswort, und Ihr, begierig ihrem Rufe folgend, werdet Euch selbst sogar los, »verleugnet Euch selbst«.
Die Eigenheit aber ruft Euch zu Euch selbst zurück, sie spricht: »Komm zu Dir!« Unter der Ägide der Freiheit werdet Ihr Vielerlei los, aber Neues beklemmt Euch wieder: »den Bösen seid Ihr los, das Böse ist geblieben«.
Als Eigene seid Ihr wirklich Alles los, und was Euch anhaftet, das habt Ihr angenommen, das ist eure Wahl und euer Belieben. Der Eigene ist der geborene Freie, der Freie von Haus aus; der Freie dagegen nur der Freiheitssüchtige, der Träumer und Schwärmer…“ (Max Stirner)
Der rechte Anarchist zieht seine Revolte in einer kompromisslosen inneren Freiheit, „Es geht nichts über mich. Dieses „Ich über alles „ begründet sein Wesen.
 
 
 
 
 
So erscheint der rechte Anarchismus dem individualistischen Anarchismus sehr nahe; ohne mit ihm gleich gesetzt zu werden.(Zu den inhaltlichen Unterschieden sei auf entsprechende Literatur verwiesen).
 Auch wenn für beide das rebellische (hier: männliche) Individuum im Zentrum steht, das sich gegen eine repressive und entfremdete Gesellschaft aufbegehrt, verteidigt der rechte Anarchist sogenannte moralische Werte, die er eisern verteidigt (Ehre, Pflicht usw.) verteidigt gegen eine Gesellschaft, die eben diese Werte negiert oder „verdreht“. Er hält gegen die „Eitelkeit“, die „menschliche Dummheit“ deren Degenerierung ja Animalität den Geist dagegen, den Respekt für seine als einzig richtig erkannten Werte. Diese individuelle Rebellion empfindet Ekel gegen diesen „Konformismus der Massen“, lehnt sie als Manipulation durch selbsternannte Intellektuelle ab, lehnt sich gegen die „Unterdrückung der Mehrheit“ auf.Das politische System ist für ihn instabil, korrupt und ineffizient.
Allein gegen alle, aber stolz, ist er ein Wolf unter den Hyänen.
Die Republik ? „Das göttliche Recht der Mittelmässigkeit“ (Leon Bloy), die Demokratie „gibt Idioten die Macht, die Intelligenz zu ersticken“ (Michel Micberth).
 
 
 
Die rechten Anarchisten hatten keine praktischen Programme. Aber es gab und gibt Hinweise, den Anarchismus oder besser einzelne Ideen des Anarchismus mit rechten Ideen zu verbinden und dahingehend zu interpretieren. Hier seien der Syndikalismus erwähnt, der durch den Einfluss von Georges Sorel zum Rechtssyndikalismus um interpretiert wurde sowie die Freiwirtschaft (*)
Exkurs: Georges Sorel
Georges Sorel (1847-1922) war kein Aktivist, sondern ein französischer Sozialphilosoph und wird als „Vater“ des Syndikalismus angesehen. Er hat sich selber als Sozialist bezeichnet, ohne sich irgendwo engagiert zu haben. Für Sorel war Frankreich durch willkürliche Herrschaft einer intellektuellen Minderheit der „Dekadenz“, dem „Untergang“ verfallen. Er setzte in seinen Schriften dem einen „revolutionären Aktionismus“ dagegen, der durch den Mythos der Gewalt eine proletarische Gesellschaft erzeugt. Diese Gewalt sieht Sorel als ein Schlachtenbild, wo die „Arbeiterklasse“ durch ihren Kampfgeist soldatische Tugend zeigen wird: Mut, Tapferkeit, Selbstbeherrschung und Opferbereitschaft.Konkret war für ihn diese herzustellende kriegerische Auseinandersetzung von Seiten des Proletariats durch den „Generalstreik“ herbeizuführen, der den Arbeitern dann auch das Recht zugesteht, Gewalt einzusetzen.
Dieses Schlachtengebilde, dieses fast Verherrlichen eines „würdevollen Krieges“, welches heroische männliche Gefühle und Instinkte weckt, der Krieg der für Sorel „eine schöpferische Kraft“ hat, weckt natürlich auch die Interessen nationalistischer Bewegungen. So bezeichnete Mussolini Sorel denn auch einen „Lehrmeister“, dem er am meisten verdanke.
Sorel hat sich in seinem Hauptwerk „Über die Gewalt“ wenig Gedanken gemacht, was denn nach diesem „Krieg“ geschehen soll, er sprach eher bildnismässig von „Gemeinschaft“. Für ihn ging es eigentlich nur um die „Mobilisierung emotionaler Kräfte“ Der Generalstreik sollte eine große Reinigung bringen und alles beseitigen, was er, Sorel, verachtete: die Reformer, die Intellektuellen..die Demokratie…“Demokratie zerrüttet die Moral, verherrlicht die Fleischeslust und weckt den Durst nach persönlicher Macht“
 
 
 
Sorel war es eigentlich auch egal, ob der „Generalstreik“ wirklich machbar war. Ihm ging es allein um die Emotionen, die dabei frei würden. Der Kampf als Antagonismus beim Menschen. Aber in der Wirklichkeit der Arbeiter ging es um Verbesserung der Lebens-und Arbeitsbedingungen und kaum um die Utopie einer proletarischen Gesellschaft und Sorel und seine Jünger verloren dann auch das Interesse an dieser „trägen dekadenten Arbeiterklasse“, ja, nannten die Arbeiter Verräter, die sich ihrer historischen Aufgabe ja überhaupt nicht bewusst sei.
Der Klassenkampf sei eine Chimäre, ein Trugschluss, der Kampf der Klassen sei nun durch den Kampf der Nationen (als Gemeinschaft der produktiven (nun) Italiener) zu ersetzen. Ein neuer Mythos müsse her, behaupteten nun seine Jünger. Der Krieg nun zwischen den Nationen, das Proletariat habe versagt, der „revolutionäre Krieg“ beginnt.
Sorel sympatisiert zeitweise mit der nationalistischen Action Francaise, begeistert sich für die Idee eines Führers, um sich dann den russischen Bolschewiki zuzuwenden. In der Verbindung von „nationalen und sozialen Mythen“ sah er dort den „revolutionären Krieg“ verwirklicht, sah eine Vision von sozialer und nationaler Befreiung gleichzeitig.
(*) (Zu Silvio Gesell und seiner Freiwirtschaftslehre wird heftig diskutiert ja gestritten.. zu diesem Thema („Markwirtschaft ohne Staat“) mit all seinen Verästelungen bis in die heutige Wirtschaftspolitik (Negativzinsen der EZB bzw. Schwundgeld bei Gesell) ) gibt es genügend Literatur und entsprechende Pro-und Contrastimmen… bis hin zu Vertretern des „Anarchokapitalismus“ … bekannte Publizisten aus dem sich „anarchistisch“ nennenden entsprechendem Milieu sind neben Gerhard Senft der Shooting Star der bürgerlichen Medien: David Graeber, dessen Freiheitsbegriff sich z.B. auf eine Optimierung der Markwirtschaft konzentriert.)
2. Mutter Erde
In vielen Regionen der Welt ist jedoch die Idee einer kollektiven, an den Ort gebundenen Identität, die auf der Gemeinsamkeit von Kultur, Sprache und Geist basiert, fragwürdig geworden, wenn Jahrhunderte des Kolonialismus und der Immigration multikulturelle Bevölkerungen hervorgebracht haben, die in dieser Hinsicht wenig gemeinsam haben. Können Anarchisten eine andere Art von Zugehörigkeit oder Zusammengehörigkeit definieren, die auch mit ihren allgemeinen politischen Vorstellung übereinstimmt?  Die Idee des Bioregionalismus scheint hier einen alternativen Ansatz zu bieten „(Uri Gordon)
 
 
Der Staat holt sich seine Berechtigung über das gesellschaftliche Leben, dieses legitimiert ihn stetig durch eine bestimmte tägliche öffentliche Ordnung, die sich z.B. durch Flaggen, Name, Territorium und eine festgelegte Umgangssprache zeigt und hat solange Bestand, wie sie von den entsprechenden Bürger*innen getragen wird. Diese Legitimation gibt den Bürger*innen über den „Rechtsstaat“ u.a. inneren Frieden, Justiz und Wahlen.
Für Etatisten sind solche Herrschaftsverbände „natürliche Gebilde“, die sich aus Familien, Stämmen zu Dörfern, Völkern und Nationen entwickelt haben.
 
Für die Anarchist*innen ist der Staat Zentrum der Macht („Gewaltmonopol“), der für sie aus der Entfremdung der Natur entstand und entwickeln die Utopie einer staatenlosen Gesellschaft, ausgedrückt durch Kollektive, Genossenschaften und Syndikate. Manche beziehen sich dabei auf natürliche und spirituelle Ursprünge. Die Ökoanarchist*innen z.b. kritisieren auch die herrschenden Machtverhältnisse und wollen diese auch abgeschafft sehen. Sie sehen das gemeinsame Leben in Kommunen und Ökodörfern und einer autarken bioregionalen Wirtschaft.
 
Denk global, handele lokal“ ist ein ziemlich bekannter Slogan und versteht sich als Alternative zur heutigen Wirtschaftsgesellschaft. Gemeint ist die Unterstützung und Förderung natürlich vorgegebener Bioregionen. „Mutter Erde“ soll wieder befreit werden, in dem der Mensch den ihm/ihr vorgegebenen Platz in der bioregionalen Gemeinschaft einnimmt. Hier kommt dann z.b. den Frauen eine entsprechende Rolle zu, stellen sie doch durch die „Funktion der Fruchtbarkeit“ die Grundstütze der angestrebten Einheitlichkeit zwischen Mensch und Natur dar. Im Bioregionalismus werden z.B. geographische, klimatische und naturräumliche Eigenarten berücksichtigt und stellen sich damit bewusst gegen Staaten, die durch“ihre rücksichtslose Politik gegen die Natur“einen „ökologischen Kollaps“ produzieren(Anthropozentrismus*). Es geht eher darum die natürlichen und auch kulturellen Ressourcen der jeweiligen Region für den täglichen aber auch künftigen Nutzen zu erhalten.
 
 
 
 
 
 
 
Die Priorität der bioregionalistischen Perspektive stellt eine tiefe Beziehung zwischen den Pflanzen, Tieren, Insekten, dem Klima, den geographischen Bedingungen mit dem Geist des Ortes, den wir bewohnen….Grüne Anarchie kämpft gegen die auf die Menschen zentrierten Ideen und Entscheidungen für eine demütige Hochachtung für jegliches Leben und jeglichem Ablauf der uns tragenden Ökosysteme.“ (**)
Irgendwie soll bei solchen Worten wohl durch diese ganzheitliche Wahrnehmung der jeweiligen Region ein neues Bewusstsein für Heimat entstehen.
Durch Selbst-Fortpflanzung: Anerkennung des Rechts jeder Gattung auf ihren Standort, auf Heimat und auf ihren Platz in der Gemeinschaft.. (Berry)
 
Auch sie lehnen die Massengesellschaften ab:
 
Bioregionalisten sind überzeugt, das die Zerstörung bioregionaler Identität mit gleichzeitiger Einebung kultureller und ethnischer Unterschiede zu einer globalen Vermassung in einer seichten, von den großen kapitalistischen Zentren beherrschten Einheitzivilisation führt, die wurzellose, heimatlose und in letzter Konsequenz nicht mehr verantwortungsfähige Menschen erzeugt“. 
 
und plädieren für ein anderes Bezugssystem, das auf eine radikale Dezentralisierung setzte, wo
 
jede Gruppe selbständig und selbstentscheidend lebt, frei und offen“ durch entsprechende bioregionale Lebensgemeinschaften. Durch die (Wieder)Verbindung mit der Erde und dem (wieder)Entdecken der „Intuition“ plädieren sie für die „Verwilderung“ ihres Lebens. „Wieder wild zu werden ist der Vorgang der Entzivilisierung, der eigenen Heilung und der uns Nahestehenden“.
 
Zitieren wir noch mal kurz Gugenberger/Schweidlenka: „….die Zerstörung bioregionaler Identität mit gleichzeitiger Einebnung kultureller und ethnischer Unterschiede zu einer globalen Vermassung…erzeugt heimatlose nicht mehr verantwortungsfähige Menschen“
 
und an anderer Stelle:
 
Bioregionalismus ist eine explosive Widerstandskraft gegen die moderne kapitalistische Mobilität
.. Bioregionalismus steht gegen den Ausverkauf der Heimat“
 
Darauf lässt es sich aus rechtsradikaler Sicht glänzend andocken.
 
 
 
 
 
Umweltschutz ist Heimatschutz“ war mal ein Slogan der NPD.
Jedem Lebewesen, jeder Gruppe sind also bestimmte autonome Lebensräume zugewiesen, die als „natürliche Gemeinschaften“ nach dem Kollaps der (zentralistischen) Zivilisation entstehen werden in dem Versuch, die „Mutter Erde“ wieder in gewesene Bioregionen herzustellen. Menschen aus anderen „Lebensräumen“ haben da, weil keine „gewachsene Einheit“ bzw. durch ihre „kulturelle Verschiedenheit“ keinen Platz.
 
Diese „kulturelle Differenz“ findet sich dann auch in der Ideologie der heutigen Rechten als Abwehrreaktion auf die Migration. Hier taucht dann der Name von De Benoist auf, ein französischer Denker der neuen Rechter, der diese „kulturelle Vielfalt“ Ethnopluralismus nennt.
 
Unter Ethnopluralismus verstehen wir die Vielfalt der Völker, wie sie sich über Jahrtausende entwickelt hat. Wir setzen diesen Begriff bewusst als positiven Gegenentwurf zur heutigen One-World-Doktrin ein, um zu verdeutlichen, dass eine rücksichtslose globalistische Entgrenzung diese Vielfalt bedroht. Es gibt ein Recht auf Verschiedenheit. Jede Ethnie hat das Recht, ihre Kultur, ihre Bräuche und Traditionen, also ihre ethnokulturelle Identität, zu erhalten… Ethnopluralismus bedeutet lediglich: bewahren, nicht zerstören; Unterschiede wertschätzen, nicht nivellieren. (Identitären)
Berührungen zwischen den verschiedenen Ethnien wird abgelehnt, weil so die einzelnen „Völker“ durch „Vermischung“ ihre jeweilige Einzigartigkeit verlören. Der Ethnopluralismus respektiere die Gleichwertigkeit von „Rassen“ und „Kulturen“ und wehrt sich gegen einen „Antirassismus“, weil dieser auf der These der Gleichheit den verschiedenen Kulturen ihre Identität raube.
Hier wieder der Widerstand gegen die „Massengesellschaft“, der Austauschbarkeit des Individuums, die zu deren Zerstörung führe.
Ich glaube dass diese Vielgestaltigkeit den Reichtum der Welt ausmacht und der Egalitarismus dabei ist, sie zu zerstören“ (De Benoist).
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((*) Anthropozentrismus: Der Mensch steht im Mittelpunkt, ihm alleine wird ein „Eigenwert“ zu geschrieben…anderer Begriff „Speziesismus“.)
 
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What is Green Anarchy? An Introduction to Anti-Civilization Anarchist Thought and Practice“,
 
 
 
3. Lebe wild und gefährlich: Tribaler Anarchismus und Anarchofaschismus
 
 
 
Die Revolte gegen zentrale Mächte, gegen den Staat oder auch gegen die Gleichschaltung und Gleichheit der Massen und die Hinwendung zu alternativen Gesellschaftsformen in Kollektiven, Dörfern , Bioregionen, Stämmen usw. kann auch unter dem Begriff „Tribalismus“ bzw. Neo-tribalismus gesehen werden.
 
Der Neotribalismus wird oft hierzulande mit dem „Kommunitarismus“ verglichen, wobei letztere allerdings nicht auf eine komplette „Entstaatlichung“ verzichten will. Diese begreift sich eher als „Selbstheilungskräfte der vielfältigen Gemeinschaften“ und die Selbstorganisation der jeweiligen Bürger*innen.
Was in der Familie getan werden kann, sollte nicht einer intermediären Gruppe übertragen werden. Was auf lokaler Ebene getan werden kann, sollte nicht an den Staat oder die Bundesebene delegiert werden“ (Vorländer)
In Europa, vor allem in Spanien und auch in Deutschland, wird dies durch den „Munizipalismus“ der autoritären Linken ausgedrückt.
 
Beim Neotribalismus dagegen spricht z.B. der Ökoanarchist John Zerzan von einem „gesunden Stammesleben“(s.o: Green Anarchy)
Neotribalismus meint, das die Menschen sich nur in den „archaischen Lebensstilen“ glücklich fühlen können.
In den USA z.B. leben ca 500 anerkannte Indianerstämme als „souveräne Nationen“
 
 
 
 
Der Tribalanarchismus (*) fördert die selbstorganisierte kollektive Aktion lokaler Gemeinschaften, die sich in einer ethnischen und kulturellen Identität organisieren und sich für ein ökologisch nachhaltiges Leben einsetzen.
Während es innerhalb eines Staates die Individuen als Gefangene, ihrer „Selbstgenügsamkeit(Unabhängigkeit)“ beraubt werden, in dem sie in totaler Abhängigkeit zu diesem gebracht werden, besteht im Anarchismus das Ziel, dieses Sklavendasein aufzuheben und durch die gegenseitige Selbstgenügsamkeit aller ihrer Mitglieder zu ersetzen.
Kapitalismus und Kommunismus wird jeweils von Unternehmen oder zentralistischen Gruppen kontrolliert. Der Anarch dagegen motiviert die Menschen zur Selbstproduktion, gibt ihnen dadurch die Macht zurück, ihre eigene Infrastruktur, ihren Handel und Produktion nach eigenem Ermessen zu schaffen.
Was ist nun mit dem Begriff „TribalerAnarchismus“oder“Stammesanarchismus“ gemeint? Nun im Stammesanarchismus wählt der Einzelne seinen Stamm und seine Werte, die er dann mit anderen teilt…..“
 
 
 
 
 
..“ Der Stamm ist meine Familie. Sie kommen zuerst, dann die Nachbarn und die Menschen, die meine Werte und Überzeugungen teilen. Diese Überzeugungen haben mit unserem Blut, unseren gemeinsamen Vorfahren, dem genetischen Gedächtnis und Zielen für die Zukunft zu tun mit Ehre und Integrität. Mein Blut fliesst durch meinen Sohn,wie das Blut meines Vaters durch mich fliesst und so fliesst das Blut meines Vaters durch einen Sohn. Das geht alles auf den Ursprung , alle Erinnerungen an Triumphe und Kämpfe sind in unserer DNA.
Aber der Stammesanarchismus basiert auch auf der Souveränität der jeweiligen Gruppe. Wenn Stämme sich bilden, erschaffen sie sich ihre eigene einzigartige Kultur, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dadurch sind die Kulturen jedes Stammes unterschiedlich, womit eine nahezu unpassierbare Kulturgrenze geschaffen wird. „
 
Da ist er wieder, der“Ethnopluralismus“ eines de Benoist, aber auch eines Carl Schmidt, der schon in den 2oerJahren von einem Pluriversum gleichberechtigter, in sich (relativ) homogener Völker .“ schrieb.
 
Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird.  Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.
 
* Die einzig bekannte „tribalanarchistische“ Gruppe in Deutschand war wohl die Kurpfälzische Untergrund Befreiungsarmee“(K.U.B.A), dessen letzter Eintrag am 3.10. 2016 nachzulesen ist
 
 
 
 
 
 
 
Deshalb bin ich ein großer Fan von Tribalismus auf alle mögliche Art, sei es religiöser Tribalismus (*) oder rassistischer Tribalismus oder was auch immer. Ich denke, wenn wir in kleineren Gruppen aufbrechen, definieren wir so Kultur, weißt du, so kannst du die Grenzen setzen. “ (Jack Donovan).
 
Jack Donovan, Autor einiger Bücher (darüber später mehr) prägte den Terminus“Anarchofaschismus“, wobei er die beiden Begriffe „Anarchismus“ und „Faschismus“ geschickt uminterpretiert und ihnen eine sehr eigene Bedeutung gibt.
 
 
 
 
 
 
 
                                                         (Fahne der „Anarchofaschisten“)
 
 
 
 Donovan sucht nach dem „ursprünglichen Geist“ der „Eternal Anarchy“(**), dessen Wurzeln im alten Italien liegen, im Symbol der „Fasces… die gebundenen Stäbe der Fasces symbolisieren Stärke und Autorität eines einheitlichen (männlichen) Kollektivs.
Das ist seine „primitive“ Anziehungskraft.
 
 

(**) s. Milton: Das verlorene Paradies

 
 
 
 
 
 
Donovan vertritt hierbei einen „männlichen Tribalismus“, dem Absterben des Staates stellt er eine kraftvolle Graswurzelbewegung entgegen, die in der Lage sei, das Chaos nach dem Zusammenbruch zu ordnen. Diese Bewegung sieht er in dem männlichen Rebellen, den Banden, die die Traditionen des „Wilden Westens“ wiederentdecken.
In diesem gescheiterten Zustand kehren wir zurük zu den Regeln des Wilden Westen und Amerika wird wieder ein Ort für Männer – ein Land voller Versprechen und Möglichkeiten, wo Mut und Ideen belohnt werden, ein Ort, wo Männer die Welt neu starten können…. Wahre Stammeseinheit kann nicht von oben aufgezwungen werden. Es ist ein organisches Phänomen…
 
 
 
 
 
Deshalb ist laut Donovan der „echte, primitive“ Faschismus eine basisnahe und verzweigte Stammesbewegung.
 
Tiefgreifende Einheit kommt von Männern, die durch ein rotes Band des Blutes zusammengebunden sind.Dieses Blut wird zum Blut des Erbes und der Pflicht, die die Familie, den Stamm, die Nation verbindet.Die Fasces fangen die männliche Vorstellungskraft ein, weil sie den vereinten Willen der Menschen zu symbolisieren scheint. Freie Assoziation – oder das Entwickeln dazu – ist der Unterschied zwischen freien Männern und Sklaven….
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Für Donovan sind die elementaren Werte dieser freien Männer:Stärke, Mut, Können und Ehre.Eine gleichmachende so genannte universalistische Moral bedroht die Männlichkeit und die Abwehr und der Schutz ist die „Gang“.
 
 
 
Die Fasces beschreiben die Entstehung von „uns“, „unseres Teams“, „unserer Kultur“, „unserer Ehre“ – der Bildung einer kollektiven Identität. Neue, reine Krieger-Banden können nur in anarchischer Opposition gegen die korrupten, feministischen, anti-tribalen, degradierten Institutionen der etablierten Ordnung auferstehen. Die Menschheit kann nur durch die Zerstörung ihrer Zukunft und die Schaffung neuer Zukunft für neue oder wiedergeborene Männerstämme neu gegründet werden. Für den Konservatismus ist es zu spät. Für die Mehrheit der Männer bleiben nur besetzte Strukturen und leere Gesten übrig.“(*)
 
(*) Donovan: „Anarcho-Fascism“
 
 
 
 
 
 
 
 
Unter dem Deckmantel der „freien Allianz“ und ähnlicher anarchistischer Vorstellungen verstecken sich eine rein männliche Denkweise, Frauenfeindlichkeit… auf der anderen Seite eine Idealisierung der Bande als die wahre Gemeinschaft für „echte Männer“ und die Ablehnung ja Bekämpfung jeglichem Gleichheitsbestrebungen, Idealisierung des Chaos und der Barbarei auf den Ruinen der „degenerierten Zivilisation.“

.Die ganze gegenwärtige Krise rührt her von dem sich verstärkenden Widerspruch zwischen der Idealvorstellung des abstrakten universalen Menschen (mit der Atomisierung und Entpersönlichung der sozialen Beziehungen als Folge) und der Wirklichkeit des konkreten Menschen, für den die sozialen Beziehung weiterhin auf Gefühlsbindungen und Nachbarschaftsbeziehungen gründet (mit Zusammenhalt, Konsens und gegenseitigen Verpflichtungen als Folge) …(De Benoist)
 
Donovan argumentiert deshalb, dass nur kleine tribale Identitäten zur Menschheit zurückkehren können.Das heisst auch eine Abgrenzung nach aussen, den Fremden. Ihnen gehört keine Solidarität und keine Erklärung. „No apologies, no Arguments, No Explanations.“
 
Der Antaois Verlag hat „The way of Men“ und „Become a Barbarian“ in deutscher Übersetzung auf den Markt gebracht. Für die „Identitären“ ist Jack Donovan ein wichtiger Theoretiker, der fast frenetisch gefeiert wird.Ist doch die Rolle der „Frau“ bei ihm klar geregelt.Möglichst auf eine Funktion, die der „Fortpflanzung“… ist doch jeder weitergehende Anspruch von Frauen für das „Riesendilemma der Gleichmacherei“ und der Schwächung des (identitären) Mannes mitverantwortlich, gegen die der Mann sich verteidigen muss – auch mit Gewalt.“Keine Rechtfertigung, keine Erklärung“
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Aber es sind nicht nur die wie in die USA oder auch hierzulande weissen Nationalisten,die Donovan favorisieren und kaum bis selten die „weissen alten Männer“, nein, die Begeisterung für das „Wiederentdecken des (ursprünglich) Männlichen“ erfasst auch urbane Mittdreissiger hierzulande und lässt sie jubilieren:
 
 
 
 
„...das geilste Buch, was ich seit langem zum Thema gelesen habe. Donovan fordert uns auf uns unserer traditionellen Männlichkeit zu stellen, in einer Gang rauszugehen, zu jagen und zu kämpfen, diese Gang ist wichtig für die Abgrenzung, das „Wir gegen die“, sonst werden wir nur zu Einzelkämpfern, jeder gegen jede, die Gang bietet uns den Halt und das finden wir auch in der Musik, im Rap….“ (aus einer YouTube Rezesension).
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Dieses Denken bedeutet im Alltag: Die Männerbande nimmt sich einen „legitimen „Anspruch auf Erfolg, Macht, Kontrolle – befindet sie sich doch in einem „gerechten Krieg“. Die Gang, der Stamm, der Erhalt und die Weitergabe der „Blutlinie“ gegen den Verlust der Identität durch eine degenerierte „Demokratie“ erlaubt sich für alles Erlittene, nun wieder Entdeckte zu rächen, an dem Fremden, den Frauen und alles „Verweichlichte“ dieser zum Untergang verdammten Gesellschaft.
 

*
(Zusammengetragen von : G.S:/O.W.)


Jul 27 2020

Die Sprengung der Gefängnismauern – Olga Taratuta und die Gründung des „Anarchist Black Cross“

Im Dezember 1905 wird ein Bombenanschlag auf das Cafe Libman in Odessa verübt, es gibt viele Verletzte. Eine anarchokommunistische Gruppe, die „Chernoe Znamia“ (Schwarze Fahne) bekennt sich zu dem Anschlag.

Chernoe Znamia war eine Gruppe von Student*innen, Arbeiterinnen und Arbeitern, einigen Handwerkern, vereinzelt Bauern und Arbeitslose. Diese vorwiegend jüdischen Anarchist*innen waren zwischen 19 und 20 Jahre jung, und einige der aktivsten gerade 15, 16 Jahre geworden.

Wir anerkennen einzelne Expropriationen, um Geld für unsere revolutionären Aktionen zu erwerben. Wenn wir das Geld bekommen, töten wir die Person nicht, die wir enteignen. Aber das bedeutet nicht, dass er, der Eigentümer, uns bestochen hat. Nein! Wir werden ihn in den verschiedenen Cafés, Restaurants, Theatern, Bällen, Konzerten und ähnliches finden. Tod dem Bourgeois! Immer, wo auch immer er sein wird, wird er durch eine Bombe oder die Kugel eines Anarchisten eingeholt“

Das Ziel, die totale Zerstörung des Kapitalismus und des Staates. In ihrer Zeitschrift „Anarkhiia“ Proklamationen und Manifestationen gegen die bestehende Gesellschaft und Aufforderung ihrer sofortigen Vernichtung.

 (Eine Gruppe der Chernoe Znamia)

In ihren jeweiligen Gruppen, die aus 10 – 12 Aktivist*innen bestanden, planten sie Rache auch für die in Blut getauchte Niederschlagung der Revolution von 1905, das Massaker durch zaristische Truppen bei der Meuterei der Potemkin, den anschließenden Pogromen in Odessa. Das Cafe Libman war ein beliebter Treffpunkt der Bürgerschaft von Odessa, die sich an diesen Pogromen beteiligt hatte.

Bei der Gruppe in Odessa war auch Olga Taratuta, die wie die meisten anderen schon unmittelbar nach dem Bombenanschlag verhaftet wurde.

Olga wurde am 21.Januar 1876 als Elka Ruvinskaia in Novodmitrovka in der Ukraine geboren wird. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lehrerin und wurde schon bald wegen „politischer Subversion“ zum ersten Mal verhaftet. 1901 reiste sie als Mitarbeiterin einer sozialdemokratischen Gruppe um die Brüder Abraham und Iuda Grossmann nach Deutschland und anschließend in die Schweiz, wo sie für die Zeitschrift „Iskra“(Funke) schrieb, wo sie u.a. Lenin traf.

Zwei Jahre später reiste sie zurück nach Odessa und trat dort der Gruppe „Neprimirimye“(Die Unversöhnlichen) bei, eine Gruppe von Anarchist*innen und Leute um den polnischen Sozialisten Jan Waclaw Machajski. Im April 1904 wurde sie erneut inhaftiert, Als sie im Herbst desselben Jahres entlassen wird, trifft sie eine südrussische Gruppe von Anarchokommunist*innen und wird bald – die sich, obwohl erst knapp dreißig Jahre alt, „Babuschka“ (Oma) nannte – eine der herausragendsten Anarchist*innen in Russland.

Die großen politischen und sozialen Missstände des agrarisch geprägten Russlands dieser Zeit hatten immer wieder zu Aufständen und Bewegungen geführt, die den Sturz des zaristischen Regimes wollten. Die langsam wachsende Industrialisierung verschärfte nun auch die soziale Lage vieler Menschen in den Städten.
Eine Rezession nach einem verlorenen Krieg verstärkte die Arbeitslosigkeit, die Exportmärkte brachen zusammen.
Als im Januar 1905 eine friedliche Demonstration in St.Petersburg niedergeschlagen wird (Hunderte von Toten – zwischen 200-600) beginnt die Revolution.

Knechte und Bauern, Bürger*innen und Sozialrevolutionäre erheben sich, Landenteignungen und Arbeiter*innenstreiks, Meutereien der Flotte schließen sich an. Berühmt wurde die Meuterei der „Potemkin“ in Odessa, wo die zaristischen Truppen wieder ein Blutbad anrichten. Berühmt durch den Film von Eisenstein, wobei die bekannteste Szene, das Massaker auf der Treppe, da in der Realität nicht stattgefunden hat, sondern in den Strassen drum herum.

http://youtu.be/0mLcpT0hcRI„> (Dramatische Treppenszene in Odessa)

Die Höhepunkte der Streikbewegung waren wohl der Eisenbahnerstreik im Oktober 1905 wie auch ein Streik von 10 000 Arbeiterinnen aus der Textilindustrie, der zu einem der größten dieser Zeit gerechnet werden kann.

Nachdem der Zar einigen Forderungen nachgegeben hatte, erlosch vor allem bei Teilen des Bürgertums und dem Landadel jeglicher revolutionärer Eifer, die anschließenden Bauernaufstände, die weiter in Leibeigenschaft blieben, konnten ohne weitere Probleme zerschossen werden.

In diesen Zeiten griff die Gruppe um Olga Taratuta zu den Mitteln der „Propaganda der Tat“. Es ist für uns heute ein leichtes zu sagen, dass diese Methoden keine von ihnen so erhoffte libertäre Gesellschaft bringen würde, sondern schon im Ansatz die Fratze eines neuen Terrorregimes verkörpert, aber die Überlebenden der „Chernoe Znamia“ sollten schon bald selbst die Konsequenzen so genanntem „revolutionären Terror“ an eigenem Leibe als Anarchist*innen erleben.

Olga war eine der wenigen Frauen, die nicht aus adligen oder großbürgerlichen Häusern kamen und trotzdem studieren konnten. Ihr Vater hatte einen kleinen Verkaufsladen in dem ukrainischen Dorf, wo sie nach dem (kurzen) Studium als Lehrerin arbeitete. Sie hatte nur Unverständnis, manchmal etwas Spott für die Gebaren der anderen Studentinnen, die aus Aristokratenkreisen kamen, Dienstboten und Kinderfrauen gewohnt waren und deren vorrangiges Streben darin bestand, sich aus den vor allem sexuellen Konventionen ihrer Umgebung zu lösen und sich oft durch Scheinehen Pässe für Europa besorgen zu können.
Olga erlebte die Missachtung dieser Frauen gegenüber den Arbeiterinnen, die Verelendung der Leibeignen auf den Gütern und – als Tochter jüdischer Eltern – die täglichen Pogrome vor allem auf den Dörfern hautnah mit.

 (Postkarte zu einem Pogrom in Odessa)

Am 15. Dezember 1906 gelang ihr die Flucht aus dem Gefängnis, in das sie wegen dem Anschlag auf das Cafe Libman 1905 eingesperrt war. Die nächsten Jahre sind immer wieder durch Agitation und Propaganda, verschiedene Attentatsversuche auf zaristische Generale, Anschläge auf das Gericht in Odessa und wiederholten Gefängnisaufenthalten geprägt. Vor allem die von Sozialrevolutionären und aufständischen Anarchist*innen bestehenden Gruppen waren oft von Polizeispitzel durchsetzt, so dass nach erfolgten Anschlägen und Attentaten ziemlich schnell Verhaftungen stattfinden konnten.

Als Olga 1908 in Kiew mit einer kleinen Gruppe die Gefängnismauern in die Luft sprengen willum einige Anarchisten herauszuholen wird auch sie verhaftet und zu 21 Jahren Kerkerhaft verurteilt.
Die Oktoberrevolution 1917 holt sie da erst einmal raus.

Paul Avrich schildert in seinem Buch zu den russischen Anarchist*innen Olga nun als „eine müde und körperlich angeschlagene Frau in den Vierzigern“, die sich bald darauf dem „Anarchistischen Roten Kreuz“ anschließt.

Die Gründung des „Anarchistischen Roten Kreuzes“ wird von Rudolf Rocker, dem „Schatzmeister“ des „ARC“ in London, zwischen 1900- 1905 angegeben. Genauer sind die Angaben von Harry Weinstein, einem der beiden Männer, die 1906 die Gruppe in Russland organisierten.
Andere sprechen von 1907. Zu diesem Jahr fanden zwei Konferenzen in London statt, an der Vera Figner sich mit Anarchist*innen traf, um die Notlage der Gefangenen in Russland zu besprechen.
Der Grund bleibt unstrittig: Das „Politische Rote Kreuz“ wurde in der Zarenzeit von Sozialdemokraten kontrolliert, die sich in der Regel weigerten, trotz fortlaufender Spenden, revolutionäre und anarchistische Gefangene zu versorgen.

Die Mitarbeiter*innen des „Anarchistischen Roten Kreuzes“ wurden vom zaristischen Regime verhaftet und gefoltert, einige auch ermordet. Die Organisation wurde verboten, eine reine Mitgliedschaft reichte, um in die Arbeitslager nach Sibirien zu kommen.
Nur wenige überlebten dort.

Zwischen 1918 – 1920 änderte die Organisation in der Ukraine ihren Namen in „Anarchistisches Schwarzes Kreuz“ um.

Olga lebt in der Gefangenenarbeit neu auf, alte Energie kehrte zurück. Und eine sich steigernde Empörung, als sie sah, wie die Bolschewiki die Anarchist*innen behandelten.

So unglaublich es auch klingen mag, und doch ist es Tatsache: Die Zuchthäuser und Gefängnisse Russlands sind heute dicht bevölkert von den besten revolutionären Elementen des Landes. Von Männern und Frauen, die Anhänger der höchsten sozialen Ideale und Ziele sind. Im ganzen weitausgedehnten Gebiete Russlands, sowohl in Groß- Russland wie auch in Sibirien, sind die Gefängnisse des alten wie des neuen Regimes und die düsteren Verließe der Tscheka, in die keine Nachricht aus der Außenwelt dringt, überfüllt mit Revolutionären aller Parteirichtungen und Bewegungen. Da sind Maximalisten, Kommunisten, Anhänger der „Arbeiter- Opposition“, Anarchisten, Anarcho- Syndikalisten und Universalisten, Anhänger verschiedener Schulen sozialer Philosophie; aber alle sind sie wahre Revolutionäre, und die meisten waren begeisterte Teilnehmer der November- Revolution 1917.

Aus den Gefängnissen in Moskau, Petrograd, aus Orel und Wladimirk, aus den fernen Provinzen des Ostens und von Kameraden, die verbannt sind in den eisigen Norden, kommen entsetzliche Nachrichten. Der Hunger, der furchtbare Skorbut frisst an ihren Leibern. Ihre Hände und Füße schwellen an, ihre Gaumen werden lose und die Zähne fallen ihnen aus. Die Körper zerfallen lebendigen Leibes.

Kameraden! Eure Ohren müssen diesen Hilfeschrei hören! Die russischen Anarchis*innen (des Schwarzen Kreuzes) sind nicht mehr fähig, auch nur die allerelementarsten Bedürfnisse ihrer gefangenen Kameraden zu befriedigen; sie können ihr Hilfswerk nicht fortsetzen, ohne dass sie Hilfe von ihren Freunden aus anderen Ländern bekommen.“ (aus einem Brief von Alexander Berkman und Emma Goldmann)

Olga hat inzwischen Kontakt zu der Machnow Bewegung aufgenommen, die ihr rd. 5 Millionen Rubel (aus Enteignungen und Diebstählen) gaben, um mit dem Geld in Charkiw (Ukraine) das „Anarchistische Schwarze Kreuz “ aufzubauen und den gefangenen Revolutionären möglichst viel Unterstützung geben zu können. Das „Anarchistische Schwarze Kreuz“ organisierte auch Selbstverteidungseinheiten und war eine Zeitlang für die „Schwarze Armee“ der Machnobewegung so etwas wie eine Stadtmiliz.
Als Vertreterin der Machnowbewegung wurde Olga im Januar 1921 von den Bolschewiki verhaftet und mit 4o anderen ukrainischen Anarchist*innen nach Moskau deportiert.

Sie war eine der anarchistischen Gefangenen, denen es einige Stunden erlaubt war, am Begräbnis von Kropotkin 1921 teilzunehmen.

 (Kropotkins Begräbnis, vorne Olga)

In der Zwischenzeit war „Anarchist Black Cross“ von den Bolschewiki verboten, ihre Strukturen weitgehendst zerschlagen.

Für Olga begann erneut die Tortur. Bis 1937 wurde sie immer wieder aufs Neue verhaftet, bis sie dann in diesem Jahr als Dreherin in einer metallverarbeitenden Fabrik Arbeit und ein wenig Einkommen fand.

Doch am 27.November 1937 wurde sie am Arbeitsplatz verhaftet und unter dem Vorwurf der „anarchistischen Tätigkeiten“ und „Handlungen gegen die Sowjetunion“ in ein Moskauer Gefängnis gebracht.

Am 8. Februar wurde sie von dem höchsten sowjetischen Gericht zum Tode verurteilt und noch am gleichen Abend hingerichtet.

Sie war zu diesem Zeitpunkt 62 Jahre alt.


Jul 25 2020

Wir sind die vertriebenen hundert Familien …wir sind….

Wir sind die 50 % der arbeitslosen Jugendlichen, die vertriebenen 100 Familien jede Woche, die jeden Tag verfolgten Migrant*innen, die erbärmlich lebenden Renter*innen, die entlassenen Arbeiter*innen, die Prekären, die Ausgebeuteten.

Wir sind diejenigen, die diese Situation nicht mehr ertragen können, belogen von denjenigen, die ihre Vorteile aus unserem Elend ziehen und uns unsere Zukunft stehlen.

Aber wir sind auch diejenigen, die Würde haben, diejenigen, die jeden Tag die ungerechten Gesetze brechen, um zu überleben, wir sind diejenigen, die glauben, daß dieses System ein Betrug ist, diejenigen, die aufstehen gegen die Organisation der Macht, diejenigen, die in den Strassen der Strategie der Angst trotzen, diejenigen, die sie nicht aufhalten können.
Wir sind diejenigen, die kämpfen und wir haben gerade erst angefangen

Wenn die Ungerechtigkeit zum Gesetz wird, wird die Revolte zur Pflicht

 


Jul 25 2020

Was ist Gewalt? Was ist sexistische Gewalt? 

 

Gewalt regiert uns, raubt uns unsere Fähigkeiten, nimmt uns unsere Autonomie, begrenzt uns, bestimmt unser Leben, unseren Verstand, unsere Körper.

Sexistische Gewalt nimmt uns unsere Autonomie, nur weil wir Frauen sind, begrenzt uns seit der Geburt bei jeder Entwicklung unserer Fähigkeiten, begrenzt uns in allem was wir können und wollen: reduziert uns auf das Hoffen, immer nur Hoffen, statt was zu tun.

Sexistische Gewalt ist regiert zu werden: durch den Präsidenten, den Führer, den Chef, oder irgendeinem Gott (oder Göttin, wie auch immer) …und durch den Vater, den Ehemann, den Kollegen oder Genossen … ist das Unterlegensein gegenüber einem, der ebenbürtig sein soll, aber letzten Endes ein Mann ist.

Sexistische Gewalt ist, dass SEINE Meinung mehr zählt, dass wir nicht in den Köpfen, den Diskursen, der Sprache, in allen Sachen ihres hierarchischen Systems existieren, sexistische Gewalt ist, dass sie uns nicht nur zu gehorsamen Arbeiterinnen erziehen wollen, sondern auch zu unterwürfigen Frauen.

Sexistische Gewalt ist, dass sich die Regierenden berechtigt fühlen, nicht nur über unsere Individualität zu regieren, sondern auch über unsere Körper, weil wir für sie nur Arbeitskräfte sind und nur künftige Arbeitskräfte „austragen“(sollen). dass die Männer sich berechtigt fühlen, uns zu manipulieren und zu besitzen wie eine Puppe und unser „Nein“ keinen interessiert.

Sexistische Gewalt will, dass unsere „Pussy“ nicht existiert, wo unsere Sexualität bewusst reduziert und in einem Schaufenster ausgestellt wird: Zwei Titten und ein Loch, dass nur noch penetriert werden will…

Sexistische Gewalt ist da, wo unsere Klitoris nicht existiert. Sexistische Gewalt ist eine ganze orthopädische Technik, verbunden mit einer Reihe verschiedener Weisheiten, Disziplinen und Geschmäckern, die uns gelehrt wurden und uns zu Frauen nach der Vorstellung des Mannes zu machen: die uns in ihrem Sinne geformt haben, statt uns wachsen zu lassen, wie wir wollen.

Gewalt ist Lohnarbeit, der Raub der Arbeitskraft, Entmenschlichung als nur  ein weiteres Werkzeug des sozio-ökonomischen Systems.

Sexistische Gewalt bedeutet, wie eine Angestellte zu arbeiten, Kinder und pflegebedürftige Familienangehörige betreuen und den einen oder anderen Unverschämten, den Einkauf machen, das Essen, das Haus sauber halten, Wäsche waschen und auch noch sanft und verständnisvoll mit ihnen umgehen, wenn sie müde von der Arbeit kommen.

Sexistische Gewalt bedeutet. Jahr für Jahr unsere Mütter gesehen zu haben, ohne das irgendjemand sie anschaut und  „Es reicht!“ schreit.

Sexistische Gewalt ist, weniger zu verdienen als mein Arbeitskollege an der Seite oder das Gleiche, dafür aber viel mehr zu arbeiten.  Sexistische Gewalt bedeutet, nicht nur den Missbrauch durch einen unverschämten Chef auszuhalten, sondern auch noch seine Hand an deinem Hintern.

Gewalt ist die Institutionalisierung der Kämpfe, der Inhalte entleert, ins System gelegt um alles zu demontieren…..

Sexistische Gewalt ist ein als feministisch verkaufter Diskurs, der uns zum Schweigen bringen soll, da er all diese sexistische Gewalt aufrecht erhält. Sexistische Gewalt sind deine Dienstmarken, behaltet sie, um euer Kabinett zu stützen, wenn um euch am Tag der Revolution die Steine regnen.

Immer Anarchistin, immer Feministin

(Übersetzt von radio chiflada aus: http://mujereslibresmadrid.noblogs.org/)


Jul 25 2020

Wie gehen anarchistische Gesellschaften mit Pandemien um?

 

Die „Koronakrise“ ist vor allem eine Krise des gegenwärtigen Wirtschaftssystems: Profitorientierte Gesundheitssysteme führen zu hohen Todeszahlen und staatliche Eingriffe sind notwendig, um einen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu verhindern. Lasst uns also sehen, wie freiheitliche, anarchistische Gesellschaften mit einer Pandemie umgehen würden.
 
Es gibt verschiedene Versionen anarchistischer Theorien. Ihre gemeinsame Grundlage ist die Liebe zur Freiheit und Solidarität. Das Folgende ist keine Blaupause für eine anarchistische Gesellschaft, sondern eine Inspiration für Möglichkeiten..
 
 
 
 
 
Erstens besteht in anarchistischen Gesellschaften ein geringeres Risiko für eine Pandemie, weil der Bedarf an Geschäftsreisen verringert wird, intensive Tierhaltung aus ökologischen und tier-rechtlichen Gründen verpönt ist und die Natur wieder mehr ins Gleichgewicht kommt.
Sollte es dennoch zu einer Pandemie kommen, wären die Menschen darauf vorbereitet: Das Gesundheitssystem wird für alle frei zugänglich sein. Die Kapazität des Gesundheitssystems wird auf die Bedürfnisse der Menschen statt auf den Profit ausgerichtet.
 
Und da das Wissen und die wissenschaftliche Forschung offen sein werden, können sich alle Interessierten an der Ausarbeitung von Aktionsplänen für verschiedene mögliche Katastrophen beteiligen, noch bevor diese eintreten.
Generell wird es einfacher werden, Expert*innen, Wissenschaftler*innen und Medien zu vertrauen, weil sie alle im Interesse der Menschen und nicht im wirtschaftlichen Interesse von Kooperationen handeln werden. So können im Falle einer Pandemie gut recherchierte Informationen und Maßnahmenvorschläge von Fachexpert*innen für jede/n zur Verfügung gestellt werden.
 
Auf der Grundlage dieser Informationen und ihrer lokalen Bedürfnisse können benachbarte Gemeinden und Regionen entscheiden, was zu tun ist. An der Entscheidung sind alle Interessierten und Betroffenen beteiligt. Da diese Entscheidungen für Mitglieder anarchistischer Gesellschaften Routine sind, können sie z.B. über das Internet recht schnell getroffen werden. Jede Region kann ihre eigene Art und Weise haben, mit der Pandemie umzugehen, solange dies nicht die Art und Weise sabotiert, wie benachbarte Regionen mit der Pandemie umgehen.
 
 
 
 
Eine Gemeinde könnte z.B. beschließen, Quarantänehäuser für diejenigen einzurichten, die schwere Konsequenzen für sich befürchten, wenn sie das Virus bekommen, und andere wie gewohnt weiterleben
Eine andere Gemeinde könnte ein umfangreiches Virusfrühwarnsystem einführen, um infizierte Menschen so schnell wie möglich isolieren zu können.
Wieder andere Gemeinschaften könnten nach gesunden Freiwilligen fragen, die sich absichtlich infizieren und nach einiger Zeit Herdenimmunität erreichen.
 
Da Solidarität eines der Herzstücke der Anarchie ist, sind alle Gemeinschaften oder Regionen offen für Besucher*innen aus anderen Orten, solange sie sich an die Vereinbarungen der Region halten, die sie besuchen.
Auf diese Weise können Personen, denen die Entscheidungen und Vereinbarungen in ihrer Region nicht gefallen, sich frei in eine andere Region begeben. Beispielsweise könnten Gemeinschaften, die in der Natur einsam gelegen sind, einige ältere Menschen aus anderen Gemeinschaften aufnehmen, und kranke Menschen, die in der Natur leben, könnten in Krankenhäuser in den Städten verlegt werden.
Auf diese Weise kann jede Gemeinschaft über ihr Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit entscheiden und für sich selbst festlegen, wie sie die Solidarität in Zeiten einer Pandemie umsetzen will.
Die Produktion von Gütern in anarchistischen Gesellschaften hat einen Schwerpunkt auf lokaler Produktion und dezentraler Planung mit überregionaler Zusammenarbeit und Unterstützung. Ein solches System ist krisenresistent und kann sich in Zeiten einer Pandemie schnell an veränderte Bedürfnisse anpassen.
 
Stay safe and question the system
 
Original : https://transform-social.org/texte/pandemie/

++++
(Übersetzung: stoergeraeusch schwerin/G.)


Jul 25 2020

Manifest der „Nihilistischen Frauen“

Lasst die Männer doch über die Revolution schwatzen, sollen sie doch ruhig! Die „Nihilistischen Frauen“ sind diese ewigen Verzögerung leid und bereit zu handeln. Um die Bourgeoisie zu vernichten, werden sie alles opfern, um dieses Ziel so bald wie möglich zu erreichen. Angetrieben von einem alles vernichtenden Hass, der in uns tobt, werden wir die notwendigen Kräfte sammeln, um alle Hindernisse zu überwinden.

Da aber dieses umfangreiche Ziel nicht über Nacht zum Erfolg geführt werden kann, werden sie sich, bis ihre Zeit gekommen ist, in Geduld fassen. Um aber in der Gegenwart Erfolge zu erzielen, werden sie Gift bevorzugen oder hier und da giftige Kräuter benutzen.
Um ihren Mangel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen und deren praktische Umsetzung auszugleichen, werden die NF kleine Dosen tödlicher Substanzen in das Essen ihrer Ausbeuter und Unterdrücker mischen. Dabei wird es sich um Stoffe handeln, die auch arme Frauen besorgen und selbst für absolut unwissende und unerfahrene Frauen zu verwenden sind. 

Unter hunderten von Inhaltsstoffen mit unbestrittener Wirkung, nennen wir z.B. Bleiacetat. Diese erhält frau innerhalb weniger Tage, wenn wir ein Stück Blei in Essig legen. Des weiteren verdorbenes Fleisch und Schierling, der so oft mit Petersilie verwechselt wird, und an jedem Straßenrand zu finden ist.

 

 

So zahlen wir unseren verabscheuungswürdigen Unterdrückern wenigstens etwas von dem Bösen heim, das sie uns jeden Tag antun.

Wir werden nicht lächeln und die Tyrannen unterstützen, wissend, dass das Leben unserer Feinde in unseren Händen liegt. Sie wollen die Herren sein, dann lasst sie auch die Konsequenzen tragen.
Während der drei Jahre des Bestehens unserer Vereinigung haben schon hunderte bourgoiser Familien einen tödlichen Preis bezahlt, dahingerafft von geheimnisvollen Krankheiten, die die Medizin nicht erklären oder heilen kann.

An die Arbeit, ihr Frauen, die ihr keine Opfer mehr sein und euer Elend hinter euch lassen wollt!

Tut es den Nihilistischen Frauen gleich!    (Original: 1883)


Jul 25 2020

Libertäre Brise für Schwerin – der lange Sommer der Anarchie

 

Aktuelle Termine (September):

04.09. —– Einführung in den intersektionellen Anarchismus —

  • Ein Workshop im Rahmen der „Libertären Brise für Schwerin“ –

 

19.30  Uhr                                   KOMPLEX   Schwerin

 

Wir sind alle Produkte einer unterdrückenden Gesellschaft, leben in komplexen wechselseitigen
Beziehungen von Unterdrückern und Unterdrückten

Intersektionalität wurde hierzulande in den frühen 1990er-Jahren zum ersten Mal eingefordert, die
als z.b. People of Color und/oder Menschen mit Behinderung ihre Situation als
Mehrfachdiskriminierte im Ein-Punkt-Aktivismus der sozialen Bewegungen nicht berücksichtigt
sahen und beschreibt, dass eine Person aufgrund unterschiedlicher sozialer Merkmale
Diskriminierung erfahren (aber auch selber weitergeben) kann… die verschiedenen Formen tauchen
nicht einzeln auf, sondern werden in ihren Überkreuzungen (Intersectionen) erlebt ..

inwieweit dieser Ansatz für eine wirklich befreite Gesellschaft genutzt werden kann, versucht
dieser Abend herauszufinden.

 

*(wird regelmässig aktualisiert)

 

******

  • Hier der Text zur Eröffnungsveranstaltung am 17.Juli im KOMPLEX Schwerin:

Hallo und willkommen zur libertären Brise für Schwerin. … kurz zu uns, die wir zu dieser Veranstaltungsreihe eingeladen haben … wir wollen keine alten Männer und einige Frauen zum Leben erwecken ..sie werden von sich aus vielleicht irgendwann quasi nebenbei bei einem Thema auftauchen … wir wollen über Anarchie reden heute in unserem täglichen Leben und in dieser Stadt … was gelebt wird und gemacht werden kann.. aber was ist Anarchie, und wer sind und was machen denn die Anarchist*innen ?

Anarchist kann sich jede/jeder nennen – von den Altgrünen über Autonome und Antideutsche, von Künstler*innen bis hin zu Vertretern rechter Organisationen ..sie alle berufen sich erstmal auf das Prinzip der FREIHEIT ... während sich aber z.B. die Rechten auf eine Freiheit berufen, die ihr Eigentum ist und der deren Eigner zu sein in einem „Ich über alles“ –

kann es für uns nur wirkliche Freiheit geben, wo es keine Herrschaft von Menschen über Menschen gibt.

Das heisst den auch: Abwesenheit von Staat, Kapital, Patriarchat, Rassismus und sonstigen Scheiss in jeder Form –

  • und wir können nur frei sein, wenn wir über unser Leben, unseren Körper und Denken frei entscheiden……..

Damit wären einige weitere Grundideen benannt: das der SELBSTBESTIMMUNG und SELBSTORGANISATION

… und Freiheit ist unteilbar und allumfassend und kann daher nur in einer sozialen Gleichheit geschehen .. ich bin nicht frei, wenn andere unfrei sind …

Freiheit ohne Sozialismus ist Barbarei – Sozialismus ohne Freiheit ist Diktatur !

Stichwort: SELBSTORGANISATION: wir haben keine Parteien, keine Umweltkonzerne, keine Stiftungen usw. in ihren Infrastrukturen hinter uns..wir sind ein Teil der Gesellschaft um uns herum, die Vorschläge für eine herrschafts-lose anarchistische Gesellschaft machen will .. für ein Leben in Freiheit und gegenseitiger Hilfe, Assoziationen und Kooperationen — diese reale umsetzbare Utopie wird Thema sein, z.B. bei einer Veranstaltung zur „Spanischen Revolution“

Wir wollen Impulse geben – unsere Fähigkeiten mit euch teilen, Beispiele setzen .. die Anarchie bietet einen schillernden Strauss voller Ideen – wir versuchen dies mit euch zu erfassen, schafft auch Impulse, wenn einige von euch selber Lust haben, eine dieser Ideen vorzustellen, immer her damit… es soll ein möglichst langer Sommer der Anarchie werden

einige von uns arbeiten in den sozialen Bewegungen, Stichwort: soziale Einfügung… dazu wird es ein Treffen, eine Veranstaltung mit „der plattform – anarchakommunistische Gruppe“ aus Rostock geben.

Wir sind alle Produkte einer unterdrückenden Gesellschaft, leben in komplexen wechselseitigen Beziehungen von Unterdrückten und Unterdrückern… Stichwort: Intersektionalität … auch dazu ist ein eigener Abend geplant

 

ANARCHIE ist eine sich ständig relativierende Bewegung .. eine Quelle von immer wiederkehrenden Fragestellungen, permanent in Bewegung, stellt Standpunkte in Frage, verschärft sie oder definiert sie neu .. sie ist im Hier und Jetzt … in Initiativen wie Wohn-und Arbeitskooperativen. Nachbarschaft – und BürgerInnenversammlungen, selbstverwalteten Räumen, ländlichen und städtischen Siedlungen – hier kommt einer das Modell des „Libertären Kommunalismus“ in den Sinn ..

 

Wir sind die, die keinen Staat zu verteidigen oder zu verbessern haben, keinen Markt zu beschützen oder auszubeuten, weder Herr noch Sklave…für ein Leben in freier Vereinbarung und gegenseitiger Hilfe

 

Schwerin im Juli 2020

 


Jul 25 2020

Mananarchist vs/ Intersektionalität und Transformativer Gerechtigkeit

Bei den Recherchen zum „Mananarchisten“ haben wir u.a. Text entdeckt. Es ist eine Übersetzung eines Gesprächs bei: http://www.newstatesman.com/laurie-penny/2013/11/discourse-brocialism,
das wir hier – gekürzt – wiedergeben wollen. Den Link für die komplette deutschsprachige Übersetzung findet ihr am Ende des Artikels.

 brocialism (bro + socialism): Sozialismus von/für Brüder/n, Freunde/n (männlich)
 manarachism (man + anarchism): Anarchismus von/für Männer/n; Macho-Anarchisten
 

 

 
 

 

 

 

Ein Dialog mit Richard Seymour zu der Frage, wie man die Tatsache, dass die Menschen aufgerührt werden müssen, mit der Tatsache in Einklang bringt, dass die Leute, die das Aufrühren übernehmen, so oft scheitern, wenn es darum geht, Frauen und Mädchen wie menschliche Wesen zu behandeln.
[…]
Richard Seymour: Meine Erfahrung ist, dass „brocialists“ nicht offen das Patriarchat umarmen; sie leugnen, dass es ein Problem ist. Oder sie minimieren. Sie lenken deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes: Du solltest dich auf Klasse konzentrieren. Du bist spalterisch. Du bist Mittelklasse (Welch Horror!). Oder sie attackieren einen Strohmann-„Feminismus“, der angeblich „bürgerlich“ ist und nichts über Klasse oder andere Achsen der Unterdrückung zu sagen hat. Oder sie ignorieren ihn einfach. Für mich ist das ganz einfach. Offensichtlich wäre es schwierig, angesichts ihrer egalitären Verpflichtungen, eine geschlechtsspezifische Hierarchie offen zu verteidigen; aber ihre Abwehrhaltung diesem Thema gegenüber legt nahe, dass sie ein Herausfordern des Patriarchats mit einer Art von „Verlust“ für sich selbst assoziieren. Die Frage ist: Was haben sie zu verlieren?……

 ……Das System des Patriarchats bietet eine Menge materieller Entschädigungen und Vorteile für diejenigen, die es akzeptieren und sich mit ihm identifizieren. Für mich sind die Vergewaltigungswitze und die frauenfeindliche Sprache – all das ist einfach symbolische Gewalt, askriptive Abwertung, und offensichtlich in direktem Zusammenhang mit Bestrafung für Übertretung. Ob bewusst oder nicht, es ist eine Gelegenheit für männliches Bonding – das „unanständige“ Lachen – und die Produktion von einer Art von Männlichkeit. Es ist die Ausübung eines „Privilegs“ des Patriarchats. Natürlich wollen oder mögen nicht alle Männer ein solches „Privileg“. Aber damit es wirksam sein kann, muss eine recht große Anzahl von Männern und Frauen seine Unvermeidlichkeit, seine Natürlichkeit akzeptieren.

Also ich denke, die „brocialistische“ Verleugnung, das Vortäuschen, dass Sexismus keine Rolle spiele oder eine Ablenkung sei, ist eine natürliche Bewältigungsstrategie für die, die wirklich denken, sie wollen die totale Befreiung, die aber noch nicht mit ihrem „Privileg“ gebrochen haben.
Laurie Penny: Es ist sehr klar, dass die Diskussion hier über das, was wir „brocialism“ nennen weit  geht. Weder ist es einzigartig in der organisierten Linken – chaotischer Cousin des Brocialisten ist, natürlich, der Manarchist, der viele der gleichen Eigenschaften zeigt in Bezug auf die Blindheit für Privilegien, sorglosen Sexismus und eine Weigerung, strukturelle geschlechtsspezifische Unterdrückung anzuerkennen, hat aber eine etwas andere Leseliste und eine noch monochromere Garderobe. […]
Richard Seymour: […] Ich persönlich habe kein Problem mit gewählten „Führern“, sofern sie tatsächlich verantwortlich handeln. Aber ob wir Führer haben oder nicht: Ich denke, wir müssen erkennen, dass Männer oft zu tief in ihre Geschlechterrollen sozialisiert sind, um sich überhaupt bewusst zu sein, was sie tun, auch mit dem besten Willen der Welt nicht. Das ist, warum ich glaube, dass Organisationen der Linken explizit organisierte Fraktionssitzungen von Frauen, von LGBTQ-Menschen, von Schwarzen Menschen usw. haben sollten – und diese Fraktionen wirkliche Autorität haben sollten. Sie sollten nicht nur Debattierclubs sein, in die Fragen, die „unbequem“ sind, ausgegliedert werden. Sie sollten Policy machen.

 

 

Laurie Penny: Das bringt uns zurück zum Kern der Frage, der ist: Verlangen wir zu viel? Ist es eine Verschwendung kostbarer Zeit, wenn wir verlangen, dass eine Revolution „perfekt“ sein muss, bevor sie beginnt? Das ist die Frage, die ich immer wieder gestellt gesehen habe, wenn es um mächtige Männer in Bewegungen geht, und um Sexismus oder sexualisierte Gewalt oder Fragen der gerechten Repräsentation, oft, aber nicht immer, gestellt durch diejenigen, die Gewalt zu verteidigen oder zu entschuldigen suchten. Wenn jemand eine mitreißende Figur ist – oder ein wichtiger Aktivist, wie Julian Assange, sollten wir dann übersehen, wie sie sich gegenüber Frauen verhalten? […]
Ich glaube, dass Sozialismus ohne Feminismus kein Sozialismus ist, den es zu haben wert ist. Zweifelsohne müssen wir eine Strategie entwerfen, wie wir beides haben können, und zwar verdammt schnell.

 

 

Richard Seymour: Wie ich es sehe, wurde das Problem am deutlichsten gestellt von Occupy. Sie appellierten an die 99 Prozent, die überwiegende Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung gegen die Reichen 1 Prozent. Und ich sympathisiere damit: Man kann nicht hoffen, zu gewinnen, wenn man nicht eine überwältigende Mehrheit mitbringt, weil die Party of Order andernfalls zu mächtig ist. Und ich stimme zu, dass es Klasse ist, was die Mehrheit verbindet.
Aber wie einigt man Menschen, die nicht nur durch Nationalität, Region und Vorurteile geteilt sind, sondern durch echte strukturelle Formen der Unterdrückung wie Sexismus? Die alte (weiße, bürgerlich männliche) Antwort ist, zu sagen, „rede nicht über ’spaltende‘ Themen, ignoriere sie für jetzt, sie sind sekundär“. Sie sind lediglich ‚Identitätspolitik‘. Sie sind irgendwie nicht so wesentlich wie Klasse. Judith Butler hat den Finger auf das gelegt, was daran falsch war – was ist weniger wesentlich daran, wenn Frauen weniger arbeiten wollen, bessere Bezahlung, nicht Opfer von Gewalt werden, nicht gedemütigt werden? Und warum sollte Klasse ‚konkurrieren‘ mit Race oder Geschlecht? Sind sie nicht zusammenhängend? Austerität ist eine Klassen-Offensive, aber ist es Zufall, dass Sozialabbau unverhältnismäßig stark Frauen und schwarze Menschen betrifft? Und wie dem auch sei, es wird nicht funktionieren: Wenn man versucht, eine „Einheit“ aufzuzwingen, die davon abhängt, dass Menschen ihren Mund halten, werden die einfach aussteigen. Gramsci hatte Recht: Man kann breite Allianzen bilden, aber nur, wenn man wirklich die Interessen aller, die Teil dieser Allianz sind, berücksichtigt.
Also brauchen wir statt einer Einheit, in der die Unterdrückten taktvolle Stille bewahren, eine komplexe Einheit, eine Einheit-im-Unterschied. Dies ist, was ‚Intersektionalität‘ für mich bedeutet. Sie ist die einzige Strategie, die funktionieren wird. Wir verlangen nicht zu viel, wir verlangen das absolute Minimum, das für den Erfolg notwendig ist.

 

 

 
 

 

 

 

 

 

 

 

Laurie Penny: Ich habe im vergangenen Jahr zwei Vorträge besucht, wo mir von älteren weißen Männern in linken akademischen Kreisen erklärt wurde, dass Feminismus entweder irrelevant für den Klassenkampf wäre oder aktiv sein Feind. Mark Crispin Millar erklärte, dass ‚Identitätspolitik‘ von der CIA erfunden wurde, als Möglichkeit, die amerikanische Linke zu spalten und zu schwächen, im Wege der Abschottung jeder weiteren Diskussion.
Die Sache ist die, dass auf einer Ebene diese Verschwörungstheoretiker völlig Recht haben – Fragen von Race, Geschlecht und Sexualität sind sehr effektiv bei der Herstellung von Spaltungen innerhalb radikalen und progressiven Bewegungen, großen und kleinen. Aber das ist nicht die Schuld von Feminismus oder Queer-Politik oder Anti-Rassismus-Organisation. Diese Teilungen passieren nicht weil die klagenden Frauen, Queers und People of Color Streit anfangen um den Lauf der Geschichte aufzuhalten – in Wirklichkeit haben wir sogar mehr zu gewinnen durch revolutionären Wandel. Die Teilungen passieren, weil wir nicht bereit sind, den Mund zu halten und sitzen zu bleiben, während Menschen in Positionen ungeprüften Privilegs versuchen, eine neue Welt zu schaffen, die zu sehr wie die alte aussieht.
Die Linke, weil sie gerne aus einer Position moralischer Überlegenheit kämpft, ist besonders schlecht darin, ihren eigenen Bullshit zu konfrontieren. Diese Tendenz lässt sie anfällig werden für die rührselige moderne Illusion, dass alle Vergewaltiger böse, unmenschliche Monster sind, und somit niemand, den man persönlich kennt, mit dem man arbeitet oder den man bewundert, so ein Täter sein kann. Tatsächlich haben sich revolutionäre Stimmung und Rape Culture noch nie gegenseitig ausgeschlossen. Die Socialist Worker’s Party und Wikileaks sind bei weitem nicht die einzigen Organisationen, die zerfallen, weil es keinen Prozess der Verantwortlichkeit [Accountability] gibt, und keinen Rahmen, durch die sie verstehen, dass ein Mensch auf der einen Seite respektiert werden und nützliche Arbeit leisten kann, und auf der anderen Seite ein Unterdrücker sein.
Das bringt uns zurück zu der unmittelbareren Frage: Wenn wir Intersektionalität, die einige Leute lieber grundlegende Gleichheit nennen, als ein Grundprinzip akzeptieren, einen Wandel zu erreichen; wenn wir akzeptieren, dass Sexismus, Misogynie, Homophobie und Rassismus von keiner Repräsentationsfigur übersehen werden darf, was fangen wird dann mit den Brocialisten an? […] Ist Ausgrenzung die einzige Option, oder können wir uns alternative Verfahren für Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit [Accountability] vorstellen?
Richard Seymour: Ich nehme an, was wir mit den Manarchisten und Brocialisten machen, hängt vor allem von einer entscheidenden Überlegung ab: Sicherheit und Wohlergehen der anderen in der Bewegung oder Organisation. Ich glaube, dass sich Menschen ändern können, und ich bin sehr interessiert an Ideen der ‚transformativen Gerechtigkeit‘, an denen Feministinnen gearbeitet und versucht haben, sie umzusetzen. Aber das würde nicht immer angebracht sein. Einige Männer sind in der Tat nicht bereit, ihr Verhalten zu ändern, und wir haben begrenzte Ressourcen. Ich denke, wenn sie gefährlich sind, müssen sie ausgegrenzt werden und, diejenigen, die von ihnen belästigt wurden, in allem, was sie unternehmen wollen, unterstützt werden, einschließlich zur Polizei gehen, wenn sie das wollen.

 

 

 

 

Aber für die meisten Brocialisten geht es, glaube ich, tatsächlich darum, sie zu der Einsicht zu bringen, dass Sexismus nicht jemand anderes Problem ist. Das Patriarchat und das gesamte System der Geschlechterreglementierung, das dazu gehört, ist unglaublich gewalttätig sowohl Frauen als auch Männern gegenüber. Natürlich leiden Männer nicht annähernd in dem gleichen Umfang darunter, aber es schadet ihnen. Im Extremfall äußert es sich als homophober Mord, der buchstäblichen Auslöschung von jemandem, der nicht den vorgeschriebenen Protokollen von Geschlecht gehorcht. Man hat diese seltsame Sache bei vielen Brocialisten (), die deutlich von den herrschenden Normen der ‚Maskulinität‘ verletzt werden, und die sich zu einem gewissen Maß widersetzen. Und doch identifizieren sie sich im Grunde immer noch mit dem Patriarchat auf einer bestimmten Ebene, genießen immer noch seine Brutalität – die Vergewaltigungswitze zum Beispiel. Sie zu überzeugen, dass dieses System ihnen letztlich schadet, ihren Beziehungen mit den Menschen um sie herum schadet, und auch verhindert, dass sie ihre höheren Ziele verwirklichen -, dass das und nicht der Feminismus, der Feind ist – ist lebenswichtig.
Der globale Aufstand der Frauen der letzten Jahre ist eine echte Chance dieses Argument aufzubrechen. Der Backlash unter einigen linken Männern ist real, aber er hat auch dazu geführt, dass andere hinterfragen, überdenken, und vielleicht sogar ihren eigenen Bullshit bemerken.
Laurie Penny: Danke für deine Zeit, Richard. Ich glaube auch an Vergebung, und wenn die feministische Konterrevolution kommt, wirst du verschont bleiben. Ich möchte hinzufügen, dass gerade jetzt Frauen und Mädchen auf der ganzen Welt sicher nicht geduldig auf Befreiung warten, bis der Klassenkampf abgeschlossen ist, der weitestgehend zu Männern und über Männer spricht. Sie wollen Veränderung jetzt, und sie hören nicht auf, sie einzufordern, und ich glaube, dass sie – dass wir – gewinnen werden. Und Brocialisten überall sollten besser zuhören, oder sie werden zurückgelassen.

http://sanczny.blogsport.eu/2013/12/18/ein-diskurs-ueber-brocialisten-und-manarchisten/

Näheres zur Transformativen Gerechtigkeit hier:  http://digitalresist.blogspot.de/2015/07/alternativen-zu-strafe-und-knast.html


Jul 25 2020

Der „libertäre Kommunalismus“ —(Alternativen zur repräsentativen Demokratie und Staat )

 

 

Einleitung und Grundsätzliches

Einen Tisch kann man umwerfen und eine Fensterscheibe zertrümmern; aber die sind eitle Wortemacher und gläubige Wortanbeter, die den Staat für so ein Ding oder einen Fetisch halten, den man zertrümmern kann, um ihn zu zerstören.
Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andre Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.“  (Gustav Landauer)

Der „Kommunalismus“ durchbricht die gegebene repräsentative „Demokratie“ und will den öffentlichen Bereich für die jeweilige Bevölkerung durch direkte Beteiligung zurückholen – durch kleine Einheiten der Gesellschaft, die so genannten „Kommunen“ (die sich in Föderationen organisieren.) 

Diese „Einheiten“ können ein Dorf oder eine Stadt sein, da wo wir leben, lieben und arbeiten, wo Menschen dieses Dorfes oder der Stadt zusammenkommen, um gemeinsam über ihr Angelegenheiten zu entscheiden.Diesen Entscheidungen geht natürlich eine Diskussion voraus, um alle Betreffenden /Betroffenen über das entsprechende Thema zu informieren und damit dann eine für alle in Übereinstimmung mit ihrem Wissen und Befinden eine Entscheidung im Konsens zu finden, also mit der alle einverstanden sind.

Das Konzept sieht also eine wachsende Bewegung, ein gemeinsames Lernen, und ein „Absterben“ der alten Strukturen vor …..

 
 Die Idee des Kommunalismus bildete sich wohl zu Beginn des 19.Jahrhunderts aus der Kritik am bürgerlichen Staat und an der Wirtschaft wo es mehr und mehr ein Unbehagen gab, dass“ eine fremde Kraft sich über die Beziehungen erhebt, ihren Lebenszusammenhang ausbeutet“ und von daher zu „einer Macht der Emtfremdung wird“..(Staat)..es ging also um das Erkennen bzw. Zurückgewinnen der eigenen Handlungsfähigkeit, der eigenen Identität jenseits der des /der „Staatsbürger*in“ und dem Nationalismus….als Stätte des gemeinsamen Lebens bieten sich die Dörfer und Städte geradezu an, neue Strukturen zu erfahren, erleben und zu erproben …der Kommunalismus sieht vor, dass die jeweiligen Kommunen durch die Bürger*innenversammlungen und ihren Delegierten in den föderalen Versammlungen gebildet werden… ob ökologische, ökonomische, sozio-kulturelle Fragen werden dort in und durch die Praxis benannt und beantwortet.

Der Kommunalismus ist nicht, wie der „Munizipalismus“, die Alternative, nun Stadtparlamente zu erobern, sondern diese zu demokratisieren, in dem sie (die Stadtparlamente bzw. Vertretungen) in öffentliche Versammlungen aufgehen, sich föderal vernetzen und eine regionale Ökonomie entwickeln, die der Organisationsform des Kommunalismus entspricht. 

 
Auch wenn die griechischen Stadtstaaten nur begrenzt für einen Vergleich taugen,hatten sie neben Schulen, Büchereien und Theater auch Marktplätze für öffentliche Versammlungen, wo sich die Bürger getroffen hatten, um Gesetze zu erlassen und über „Staats“angelegenheiten selbst zu entscheiden. 
 Es klingt selbst für Menschen, die der zentralisierten Macht des Staates Alternativen gegenüberstellen sollen,das Konzept des „Kommunalismus“ wie ein nicht erfüllbarer bzw. umsetzbarer Traum. Aber immer haben Menschen zusammen in kleinen oder grösseren Zusammenhängen versucht, dies zu verwirklichen…als Alternative zur Zerstörung von Gemeinschaften der Dörfer und Städte und als positives befreiendes Moment gegen die „grosse Revolution“ oder „der endgültige Weltuntergang“ das Projekt einer „sozialen und kommunitären Erneuerung“ anzugehen…diese Beispiele als Impulse dafür zu benennen, wie es funktioniert hat bzw. funktionieren konnte und…übertragen auf heute.. funktionieren kann!
 
 „Es ist nicht Liebe und auch nicht Sympathie, worauf die menschliche Gemeinschaft beruht. Es ist das Bewusstsein – und sei es nur in dem Entwicklungsstadium eines Instinkts -von der menschlichen Solidarität“  (Janet Biehl)



 
 Ob es die Gilden waren, die sich in der mittelalterlichen Stadt entwickelten, die eine der wichtigsten kommunalen Institutionen darstellten, die Comuneros im Spanien des 16.Jahrhunderts, die (nord)amerikanischen Städtversammlungsbewegung, die Pariser Sektionsversammlungen um 1790 und die Pariser Kommune selbst, die Madrider Bürgerbewegung in den 1960er—immer wieder tauchte der „Kommunalismus“ dann als Bewegung von unten auf, wenn Menschen etwas verändern wollen – ungeachtet aller radikalen Dogmen ….er speist sich nicht aus den „Klassen“fragen , er beansprucht für sich, eine Antwort auf ein umfassendes Verhalten zu Umwelt, Wachstum, Unterkunft und Versorgung zu finden, indem er die Menschen in Räten, Versammlungen zusammenbringt, ungeachtet ihrer (auch beruflichen) Herkunft und Interessen – etwas was dem proletarischen Sozialismus z.b. nicht gelungen war ..als einzige oben schon geäusserte Alternative zu (National)staat durch eine neue Politik, die wirklich von den Bürger*innen ausgeht.
 
 In den nächsten Texten will ich ein wenig näher auf die Möglichkeiten des „Kommunalismus“ eingehen, ihre Stärken aber auch ihre Schwächen ( aus den schon gelebten Beispielen) , vor allem auf die Erfahrungen heute in einigen Gebieten,aus der er sich entwickeln kann, wie
 
  ArbeiterInnen- und Wohnungs- Kooperativen, selbstverwaltete Betriebe, Betriebs- und Nachbarschaftsversammlungen, Kreditgenossenschaften, , lokale Lebensmittelproduktion, lokale Betriebe, die Förderung von öffentlichen Verkehrsalternativen zum Auto usw….
 
aber auch auf die Gefahren, die bei dem Herausbilden einer „öffentlichen politischen Sphäre“auftreten können. 

Jul 25 2020

“ Zu streiken bedeutet die Produktion zu übernehmen.“ – Lucy Parsons und die Geschichte des 1.Mai

 
Lucy Parsons wird heute weiterhin vorwiegend als die „Witwe von Albert Parsons“ wahrgenommen, einem der Anarchisten, die im November 1887 hingerichtet wurden. Einige, ein wenig mit der persönlichen Geschichte von Lucy Parsons vertraut, sehen in ihr eine vermeintliche (spätere) Mitarbeiterin der Kommunistischen Partei der USA.
Dabei war sie schon Jahre zuvor eine der Aktivisten in der Organisierung der Arbeiterinnen und deren Kämpfe, begann da schon Artikel über „soziale Gerechtigkeit“, Arbeits- und Obdachlosigkeit (siehe dazu den bekanntesten Artikel „To Tramps“, wo sie sich für „direkte Aktionen“ ausspricht). Sie gilt in der Geschichte der (nord)amerikanischen anarchistischen Arbeiterbewegung und den „Anarchist People of Color“ als eine ihrer bemerkenswertesten Protagonistinnen und war für die Polizei in Chicago „gefährlicher als 1000 Randalierer“.
Wenig ist über die ersten Jahre ihres Lebens bekannt. Als Tochter einer Mexikanerin und eines Angehörigen des Creek-Stammes 1853 (?) in Texas geboren ( ihre Eltern waren sehr wahrscheinlich Sklaven) wuchs sie die nächsten Jahre wohl auf der Farm ihres Onkels mütterlicherseits auf –in einer offen rassistischen Gesellschaft wechselte sie oft ihren Familiennamen, nannte sich vorwiegend Lucy Gonzales und verdeckte damit ihre afroamerikanischen Wurzeln.
1870 begegnete ihr Albert Parsons, ein ehemaliger Soldat der Konföderierten, Abolitionist und radikaler Republikaner, der zu dieser Zeit als Journalist des „Daily Telegraph“ den Nordwesten von Texas bereiste.
Doch ein gemeinsames Leben ist ihnen in diesem Teil der USA verwehrt. Es herrschte auch per Gesetz Rassentrennung „Mischehen“ wurden nicht geduldet. Als sich Albert für die Registrierung schwarzer Wähler*innen einsetzt, wird er angeschossen, der Klan droht mit Lynchjustiz.
1873 ziehen Lucy und Albert Parsons nach Chicago, wo Albert als Drucker für die „Chicago Mail“ arbeitet.
 
                    (Kinder beim Kohlesammeln in den Arbeitervierteln von Chicago – um 1900)
 
In dieser Zeit einer wirtschaftlichen Depression mit Millionen von Erwerbslosen wuchs der Druck auf die Arbeiter*innen sich gegen niedrige Löhne zu verkaufen oder den vielen Einwanderern den stark umkämpften Arbeitsplatz zu überlassen. Die Bevölkerung von Chicago verdoppelte sich in diesen Jahren durch den Zuzug junger Landarbeiter und europäischer Einwander*innen. Viele fanden Arbeit in den Fertigungsanlagen, mit einer Arbeitszeit von 12 Stunden und mehr. Untergebracht in Billigwohnungen, eher einer Holzbox ähnlich, wuchsen im Westen der Stadt die Slums. Unter den Augen der ihnen feindlichen Vorarbeiter, die sie zu immer schnellerem Tempo antrieben, um die endlose Nachfrage nach Fleisch, Holz und Maschinen zu befriedigen. Die Zahl der Ungelernten stieg, die Arbeitslöhne sanken täglich. Aber mit den Einwanderern kam auch die sozialistische und anarchistische Ideologie in die USA und die Arbeiter*innen radikalisierten sich.
Im Oktober 1877 fand einer der größten Streiks in der Geschichte der USA statt. Eisenbahner im ganzen Land protestierten gegen weitere Lohnkürzungen der Baltimore Ohio Railroad. Bald streikten sie auch in Chicago, griffen auch zu militanteren Aktionen. Da entgleiste mal ein Gepäckwagen, dort wurde sich mit der Polizei geprügelt.
Albert Parsons engagierte sich so stark in diesem Streik, dass er bald seine Arbeit bei der Zeitung verlor und als „Arbeiteragitator“ auf die schwarze Liste gesetzt wurde. Lucy eröffnete daraufhin ein Kleidergeschäft, um ihre wachsende Familie finanziell über die Tage zu bringen. Sie unterstützt in dieser Zeit mit anderen Frauen die Organisation „WWU“ (Workers Women Union) in Chicago – dabei auch Lizzie Swank Holmes, zu der sich eine intensive Freundschaft entwickelt, so unterschiedlich ihre Herkunft auch sein mochte.
Hier die Tochter von Sklaven, dort eine junge Frau aus dem eher ländlichen Iowa, aufgewachsen in einer Familie von Freidenkern mit dem damals typischen Karrieweg, Lehrerin in einer ländlichen Schule, dann frühe Heirat, Geburt von zwei Kindern. Wenige Jahre später, nach dem Tod des Ehemannes, unterrichtet sie Musik und vernimmt die Schwingungen der Streiks und der radikalen Arbeitskämpfe. Mit ihren Kindern geht sie nach Chicago, gibt wieder Musikunterricht und arbeitet als Näherin in einem der „Sweatshops“, wo sie sich weiter radikalisiert.
Lizzie wohnte in unmittelbarer Nähe von Lucy und Albert Parsons in einem Arbeiter*innenviertel im Westen von Chicago. In langen Spaziergängen mit beiden wurde Lizzie mehr und mehr zur Anarchistin. 1884 gab Albert, der inzwischen Mitglied der „IWPA(International Working People´s Association), der „schwarzen Internationale“ war, 
die Wochenzeitung „Alarm“ heraus, Lizzie wurde seine Assistentin. In der ersten Ausgabe des „Alarm“ erschien dann der schon erwähnte Artikel „To Tramp“ von Lucy Parsons.
Jeder schmutzige, lausige Tramp solle sich bewaffnen mit einem Revolver oder Messer und damit auf den Stufen der Paläste der Reichen warten und diese erstechen oder erschießen, so bald sie herauskommen. Lasst sie uns töten ohne Gnade und lasst es zu einem grausamen Krieg gegen die Eigentümer werden, ohne Mitleid.
Ähnlich rigoros setzte sie sich für die Rechte der Afro-Amerikaner*innen ein. Schrieb Artikel und Broschüren, benannte und verurteilte öffentlich rassistische Morde und Angriffe, forderte zur Selbstverteidigung auf. In Fragen des Rassismus (und der Frauenfrage) zeigt es sich aber, warum Lucy Parsons heute kaum mehr als das wahrgenommen wird, wie ganz zu Anfang beschrieben.
In einem Artikel zu Lynchmorden in Corrollton 1886, wo dreizehn Afroamerikaner gehängt wurden schrieb sie: „ Gibt es wirklich noch welche, die glauben, dass dieses Verbrechen und alle anderen geschehen ist, weil er schwarz war? Nein, überhaupt nicht ! Es ist, weil er arm ist, weil er abhängig ist, weil er als Klasse noch ärmer ist als ein weißer Lohnsklave im Norden“.
Für sie war Rassismus eng verknüpft mit dem Klassenkampf, der unvermeidlich mit der Zerstörung des Kapitalismus auch die Frauenfrage „kläre“ – und sich damit der oft persönlichen Kritik von Emma Goldmann ausgesetzt sah.
Der Feminismus von Lucy Parson sah die Unterdrückung der Frauen als eine Funktion des Kapitalismus, während für Emma Goldmann die Freiheit der Frauen eher einen abstrakten, allgemeinen Charakter hatte. Für Emma wurde die Frau in allen Schichten, in allen Dingen, in allen Zeiten und an allen Orten unterdrückt.“
 
 
 (Lucy vor einem Portrait von Albert Parsons)
Der Konflikt ging so weit, dass Emma Goldmann Lucy Parsons nur noch „als die Witwe unseres Märtyrers Albert Parsons“ bezeichnete, die „mit seinem Blut um öffentliche Anerkennung buhlt“, ja, in späteren Schriften zu Albert Parsons sogar nur noch von einer „jungen Mulattin“ sprach.
Aber zurück ins Chicago des Jahres 1886. Im ganzen Land gärte es, der Widerstand gegen die Arbeitsbedingungen mehrte sich. Ein 1.Mai wurde gewählt, um im ganzen Land für einen Achtstundentag zu demonstrieren. Die anarchistischen Arbeiter*innen schlossen sich dieser Forderung an, obwohl sie weiterhin für die Abschaffung der Lohnarbeit eintraten.
An diesem Tag, so eine Chicagoer Zeitung, „“kam kein Rauch aus den Schornsteinen der Fabriken, es herrscht eine Sabbat-ähnliche Ruhe“. Es war ein Generalstreik, im ganzen Land fuhren keine Eisenbahnen mehr, die Häfen wurden besetzt. In Chicago selbst gingen ca. 40 000 auf die Strasse – ganze Familien in ihren Sonntagskleidern. Für die Unternehmer und deren Politiker waren dies Zeichen einer Revolution, die es zu bekämpfen galt. Auf Dächern, an Kreuzungen und Strassen postierte sich die Polizei,  Soldaten der Nationalgarde wurden mobilisiert und mit Maschinengewehren ausgestattet.
Dann schlugen sie zu. Am 3.Mai schossen sie in eine streikende Menge vor der Mähmaschinenfabrik McCormick in Chicago. Arbeiter wehrten sich mit Steinen, es gab Tode und Verletzte. Für den Abend des 4.Mai wurde dann zu einer großen Versammlung auf dem Haymarketplatz aufgerufen. Es war ein großer, offener Platz, ideal für die vielen Menschen, die sich nun dem Streik noch anschlossen. Am Abend die grosse Versammlung auf dem Platz, Redner*innen wechselten sich unentwegt ab, dabei auch der Anarchist August Spieß, der schon die Tage zuvor unentwegt agitiert hatte. Es begann zu regnen, viele verließen den Platz. Der Rest des Abends ist wohl bekannt.
 
 
Die folgenden Tage waren eine einzige Verfolgungsjagd, gesucht und festgenommen, gefoltert und abgeurteilt wurden vor allem die Anarchisten. In einigen Zeitungen von Chicago waren zuvor vor allem August Spieß und Albert Parsons als die „Rädelsführer“ genannt. Es gab Haftbefehle gegen sie. Doch Albert Parsons, der an diesem Abend nicht auf dem Platz war, konnte erst einmal untertauchen und versteckte sich bis zum ersten Verhandlungstag. Dann stellte er sich dem Gericht und neben seine mitangeklagten Freunde.
 (Gerichtsgebäude in Chicago
Die ganze Zeit über wurde Lucy von der Polizei überwacht. Als Albert untertauchte, wurde sie verhaftet und verhört, aber selber nicht der Teilnahme an dem Bombenattentat beschuldigt. Im Denken der Behörden waren Frauen nicht in der Lage, solche radikalen und militanten Aktionen durchzuführen.
Nach dem Todesurteil 1887 gegen fünf, dabei auch Albert, konzentrierte sich Lucy, vorangetrieben aus einer Mischung aus Wut und Stolz, auf die Freilassung der Anarchisten. Sie reiste durchs Land, hielt Kundgebungen ab, sammelte Gelder. Wohin sie auch ging, wurde sie von der Polizei „begrüßt“ und bewacht, manchmal behindert. Aber sie gewann mehr und mehr Menschen für den Haymarket Fall, wenn auch nicht unbedingt das Interesse des Gouverneurs von Illinois, der für eine Begnadigung zuständig war. Der 11. November wurde der Tag der Hinrichtung. Lucy, die mit ihren beiden Kindern zum letzten Mal Albert sehen wollte, wurde verhaftet, gezwungen sich auszuziehen und mit ihren Kindern solange in eine kalte Zelle gesteckt, bis die Hinrichtung vorbei war.
Danach lebte sie in Armut, mit acht Dollar in der Woche unterstützt von der „Pioneer Aid and Support Association“, eine Unterstützungsgruppe u.a. für die Familien der Märtyrer vom Haymarket.
1888 reiste sie auf Einladung der „Socialist League“ nach London.
Überrascht und erregt über die Redefreiheiten in England, die in nichts mit der täglichen Repression in den USA zu vergleichen war, begann sie nach ihrer Rückkehr eine neue Epoche ihres Kampfes. Trotz mehrmaliger Festnahmen verteilte sie auf der Strasse ihre Broschüre zum Anarchismus, hielt Reden, suchte die Erwerbslosen bei ihren Hungermärschen.
1892 gab sie zusammen mit Lizzy Holmes die Zeitschrift „Freedom: A Revolutionary Anarchist-Communist Monthly“, wurde oft festgenommen entweder weil sie (verbotene) öffentliche Reden hielt oder (verbotene) anarchistische Literatur verteilte.
Lucy`s Beziehung zur anarchistischen Bewegung war aber verhalten. Während sie sich – verstärkt noch durch die Hinrichtung von Albert – der „anarchistischen Sache“ verpflichtet sah, entstand zwischen ihr und vielen anderen in der „Bewegung“ eine tiefe Kluft, allen voran bei Emma Goldmann, die sich oft nicht gerade nett über Lucy äußerte (s.o.) Für Lucy war die Klassenfrage, der Klassenkampf das Entscheidende und betrachtete – wie die meisten Arbeiterinnen – Ehe und Familie als eine fast natürliche Sache. Im Gegensatz dazu die entsprechende Kritik vor allem von Emma und dem Grossteil der anarchistischen Bewegung und deren Eintreten der „freien Liebe“ – auch wenn sie, Emma Goldmann, in dieser Zeit selbst in einer acht Jahre andauernden, „verzweifelt leidenschaftlichen“ und sehr eifersüchtigen Beziehung zu und mit Ben Reitmann lebte.
Lucy Parsons und Emma Goldmann hatten sehr verschiedene soziale und politische Hintergründe. Während Lucy mehr im Zusammenhang der militanten Arbeiterklasse der 70 und 80er Jahre zu sehen ist, kam Emma Goldmann aus den radikalen intellektuellen Emmigrant*innenzirkeln New Yorks.
1894 streikten etwa 50 000 Arbeiter der Pullmann Werke im Süden von Chicago. Was als wilder Streik begann, wurde einer der größten Arbeiter*innenproteste in den USA: Obwohl der Streik nach zwei Monaten zusammengeschossen wurde, war er für viele – so auch für Lucy Parsons – ein weiteres Beispiel für die Stärke der Arbeiter*innen und der Möglichkeit einer Revolution.
Vehement stürzte sie sich in die Agitation, war maßgeblich an dem Chicagoer „Teamster Streik“ beteiligt.
Montgomery Ward (ein großes Textilunternehmen) hatte 1905 die streikenden Schneider ausgesperrt. Daraufhin traten bis zu 25000 „Teamster“, also Fuhrleute, in einen so genannten „Sympathiestreik“. Der Streik dauerte etwa 100 Tage und bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Streikbrechern und Polizei gab es 21 Tote. Dieser Streik gehört neben den East St.Louis Riots zu den heftigsten in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung.
1905 nahm sie als eine der ersten Frauen an der Gründung der „IWW“ in Chicago teil und gab „The Liberator“, die Zeitung der IWW heraus.
Zwischen 1907- 1908, die Zeiten enormer wirtschaftlicher Depression, verlagerte sie ihre Agitation und kämpfte nun vorrangig gegen Armut und Arbeitslosigkeit. 1915 organisierte sie einen Hungermarsch in Chicago. In dieser Zeit wird sie mit den Worten zitiert: „Meine Vorstellungen von Streiks der Zukunft heißt nicht, sich zusammenschlagen zu lassen, zu gehen und zu verhungern, sondern zu streiken bedeutet für mich, in den Fabriken zu bleiben und die Produktion zu übernehmen.“
Damit antizipierte sie nachfolgende Sitzstreiks in den USA, wie in den 30erJahren bei den Kämpfen der Automobilarbeiter(General Motors) und Besetzungen der Fabriken, wie in jüngerer Zeit 2001 in Argentinien.
 
 
 (Sitzstreik bei General Motors 1936)
Der Anarchismus konnte sich in der jetzigen Generation nicht durchsetzen. Es gibt nur ein paar lose, sich abmühende Gruppierungen, die über dieses große Land verstreut sind. Sie treffen sich gelegentlich bei ‚Konferenzen‘, reden miteinander und gehen dann wieder nach Hause. Anarchisten sind gut darin, Mängel anderer Organisationen aufzuzeigen. Aber was haben sie in den letzten fünfzig Jahren getan … Nichts, um eine Bewegung aufzubauen. Sie sind nur Fantasten, die träumen. Somit finden sie keinen Anklang in der Öffentlichkeit … [Es] ist kein Thema mehr im heutigen Leben Amerikas.
Ich habe für International Labor Defense (ILD) gearbeitet, weil ich etwas tun wollte, um den Opfern des Kapitalismus, die in Schwierigkeiten geraten waren, zu helfen und weil ich mehr tun wollte, als nur zu reden.“
Harte Worte von einer, die zutiefst von den Ideen des Anarchismus überzeugt war.
Der Anarchismus hat nur ein unfehlbares, unveränderliches Motto: Freiheit. Die Freiheit, jede Wahrheit zu entdecken, die Freiheit, sich zu entwickeln, natürlich und voll zu leben.“( The Principles of Anarchism).
Harte Worte auf harte Kritiken von Seiten einer langsam absterbenden, zerfallenden anarchistischen Bewegung. Sie arbeite mit den Kommunisten zusammen, ja, sei Mitglied der Kommunistischen Partei, war eigentlich immer schon eher eine Kommunistin gewesen.
Auslöser war ihre Zusammenarbeit mit der „International Labor Defense“, der US-amerikanischen Sektion der Internationalen Rote Hilfe, die der Kommunistischen Partei angegliedert war. Die ILD engagierte sich sehr stark in Bürgerrechtsfragen, setzte sich für verfolgte Gewerkschaftsaktivistinnen ein und kämpfte gegen Rassismus und Lynchjustiz. Dies war ausschlaggebend für Lucy Parsons und erinnert sehr stark an die Motive der Zusammenarbeit von Erich Mühsam mit der „Roten Hilfe“ und den dementsprechenden Schmähungen.
Lucy Parsons angebliche Mitgliedschaft jedenfalls konnte nicht belegt werden, selbst die KP wies diese „Gerüchte“ in einer Todesanzeige 1942 zurück.
Wohl eine der spektakulärsten Aktionen, die Lucy zusammen mit der ILD durchführte, war die gegen die Verfolgung und Verurteilung der „Scottsboro Nine“. Eine Gruppe von neun jungen Schwarzen, die 1931 der Vergewaltigung zweier weißer Frauen in Alabama angeklagt und ohne jegliche Beweise für ihre Schuld zum Tode verurteilt wurden. Durch eine unermüdliche Kampagne wurden anfangs vier der Männer freigelassen, die Todesstrafe für die anderen zuerst in längere Haftstrafen umgewandelt, bis auch sie 1943 freigesprochen und freigelassen wurden.
Lucy Parsons setzte ihren Einsatz für die freie Rede unermüdlich fort, hielt glühende Ansprachen in den Strassen von Chicago, wo sie viele junge Anarchist*innen begeisterte. Studs Terkel nannte sie später seine „Lehrmeisterin“.
Sie starb am 7.März 1942 – wohl 89 Jahre alt – in ihrem Haus durch ein Feuer. Nach ihrem Tod beschlagnahmte die Polizei ihre Bibliothek von mehr als 1500 Büchern und viele ihrer persönlichen Papiere, Reden, Manuskripte, so als fürchteten sie Lucy Parsons noch über ihren Tod hinaus.
Sie wird in der Nähe von Albert Parsons beerdigt, am Haymarketdenkmal im „Forrest Park“, Illinois. 
 
 (Haymarketdenkmal mit den Grabsteinen von Lucy Parsons und Emma Goldmann u.a.)

Lucy Parsons sprach mit einer schönen, wohlklingenden Stimme, voller Eloquenz und Leidenschaft. Ihre Kraft holte sie aus den Menschen, die sie umgaben. Sie verlor nie den Glauben an die Stärke, den Mut und die Intelligenz der Menschen…. Welche große Befriedigung mag es für sie sein, die Zahl der jungen Frauen zu sehen, die die Farbe ihres Protestes stark und heiter weitertragen. Lucy Parsons lebte nicht in der Vergangenheit. Sie lebte für die Zukunft. Sie wird in der Zukunft in den Herzen der Arbeiter*innen weiterleben.


(Elizabeth Gurley Flynn)

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Originalmanuscript: 9.April 2012  (radiochiflado.blogsport.de- w.h.)