Dez 17 2020

„Wir sind gefährlich, sogar asozial und zerstörerisch “ – (Zu John Olday)

„Alle Macht den Räten“ – diese Parole stand nicht nur in der Vergangenheit für eine eher antiautoritäre Position in der Arbeiter*innenbewegung, sondern kann auch heute noch, wenn auch durch die Diskussionen und Erfahrungen der Zeit modifiziert, immer noch für den Ausdruck einer Organisationsidee einer befreiten Gesellschaft resp. als ein Mittel für den Weg dorthin angesehen werden. Wenn wir auch heute eher „Keine Macht für alle“ als Synonym für eine Gesellschaft „der Freien und Gleichen“ sehen, und uns eine Organisation nach dem Rät*innenprinzip auch und vor allem aus dem jeweiligen unmittelbaren Zusammenhang wünschen und fördern ( also über die Produktion hinaus bzw. neben ihr) so bleibt doch diese Organisations-form resp. -möglichkeit eine der elementaren Ideen für eine Gesellschaft /Welt ohne Staaten und Klassen.

Wenn sich diese Idee – erstmals proklamiert und probiert während der Pariser Kommune 1871 – durch die Bolschewiki in der „Sowjet“union abgeschafft oder in ihr Gegenteil umgekehrt wurden, gab es doch weiterhin Versuche, zur Ursprünglichkeit zurückzukehren. So wie beim durch die Anarchist*innen beeinflussten Aufstand in Kronstadt „Alle Macht den Sowjets, nicht den Parteien“ und den Räterepubliken in München Bremen usw., die aktiv von sogen. „Räteanarchisten“ wie Erich Mühsam und Gustav Landauer vorangetrieben wurden.

Auch der Grafiker und Karikaturist John Olday verstand die Räteidee in ihrer Wurzel als anarchistisch, d.h. für ihn war dies der Weg zu einer sich selbst organisierenden Gesellschaft.
So versuchte er 1947 in Abgrenzung zu Rockers „Kommunalismus“ ( siehe dazu die Broschüre „Zu Betrachtung der Lage in Deutschland – Die Möglichkeiten einer freiheitlichen Bewegung“) dem Rät*innenkonzept eine neue Geltung zu geben. So nannte er die Zeitschrift „Anarchist“, die 1886 in Chicago gegründet und nun 1948 von ihm wieder herausgegeben wurde, in „Räteanarchist“ um, die allerdings nur 5 Ausgaben hervorbrachte. Immerhin wurde dadurch dem Rät*innenanarchismus in Deutschland (wieder) eine Stimme gegeben. Denn schon 1924, nach der Niederschlagung der Arbeiteraufstände in Hamburg, war John Olday als „räteanarchistischer Agitator“ im Ruhrgebiet unterwegs.

„Fragt nach Brot/wenn sie euch kein Brot geben/nehmt euch das Brot“ (Emma)

Am 18. und 19. August 1916 kam es in den vor allem von Arbeiter*innen bewohnten Hamburger Stadtteilen Barmbek (im Norden) und Hammerbrook (nahe St.Pauli) zu Hungeraufständen. Die hohen Preise für Obst und Gemüse und andere Lebensmittel sowie das Ausbleiben der Kartoffellieferungen – dem „Herzstück der deutschen Küche“ – führten zu einer eher spontanen Notwehrreaktion. Die Scheiben von Geschäften wurden eingeschlagen, viele anschließend ausgeräumt. Brutal schlugen Polizei und Militäreinheiten, dabei die Wandsbeker Husaren – am Abend des 19. die Revolte nieder, es gab Verletzte und Festnahmen.
Noch heftiger dann die Repression sechs Tage später. Als bekannt wurde, dass das Bürger*innentum keinerlei Versorgungsprobleme hatte, zogen die Revoltierenden in das Villenviertel Harvestude. Sie wurden dort „mit Säbeln niedergestochen. Wie Bestien ging die Polizei auf hungernde Frauen, Männer und Kinder los“. So die Aussage eines Soldaten auf Heimaturlaub. „Aber es kommt der Tag der Vergeltung, wenn die, denen das Morden gelehrt worden ist, zurückkehren werden“.
Anfang 1917 erstreckten sich die Hungerrevolten dann über fast ganz Hamburg. Nach Protesten vor dem Rathaus wurden Brot-und Lebensmittelgeschäfte gestürmt, zur Selbsthilfe gegriffen, als legitimes Mittel der Wiedergutmachung und auch als ein Ausdruck einer gemeinsamen Identität.

Der zu diesem Zeitpunkt 12jährige John Olday, aufgewachsen in den Docks des Hamburger Hafens, war von Anfang an bei den Revolten dabei. Und er schleppt Munition – beim Matrosenaufstand 1918 steht er neben einem Maschinengewehr des „Spartakusbundes“.

Im Januar 1919 kommt es nach einigen Demonstrationen des „Arbeiter-und Soldatenrates“ zum „Besuch“ des Alsterpavillon und des Luxushotels „Atlantic“. Hier labte sich das Bürgertum ostentativ an allem, was den Erwerbslosen unerreichbar war. Hier tauchte alles das auf, was auf den anderen Lebensmittelmärkten schon lange nicht mehr zu erhalten war. Die hier nun erbeuteten Nahrungsmittel halfen vielen arbeitslosen Familien über die nächste Woche. Ähnliche Aktionen – oft von Kindern und Jugendlichen wie John Olday durchgeführt– hielten sich bis zum „Osteraufstand“ in St.Pauli, der am 23.April niedergeschlagen wird.

Wir sehen John Olday auch bei den „Sülze-Revolten“ am 23. Juni . Eine Woche später marschiert das Reichskorps in Hamburg ein, errichtet Schnellgerichte
John entgeht einer Hinrichtung in letzter Minute und kann untertauchen.

Am Morgen des 23.Oktober 1923 kommt es zu bewaffneten Kämpfen in einigen Hamburger Stadtteilen, vor allem Brambek und Eimsbüttel. Hauptverkehrsstrassen werden blockiert, Barrikaden gebaut, Polizeiwachen angegriffen und besetzt. Vorangegangen waren wieder Erwerbslosendemonstrationen und ein drei Tage zuvor begonnener Streik der Werftarbeiter(der von der KPD abgelehnt wurde). Obwohl wohl Kommunist*innen diese Aufstände mitiniitiert hatten, distanzierte sich die Leitung der KPD davon, nannte es einen „Putsch“. Und so beteiligten sich dann auch nur wohl 150 Kommunist*innen an den Barrikadenkämpfen der nächsten Tage.
John Olday war nicht nur an der Barrikade, sondern auch in einer Guerillaeinheit der „Anarcho-Spartakisten“, die vor allem in Brambek mit Unterstützung vieler Stadtteilbewohner*innen zwei Tage und Nächte sich der verschärfenden Aufstandsbekämpfung widersetzten konnten –

„Hungerdachluken gegen die Ordnungspanzer von Obertier Danner, nicht unser Ober, nicht unser Panzer, nicht unsere Ordnung, bloß unser Hunger – wann fängt dein Sterben denn an?“ („Wird Zeit dass wir leben“)

1925 zieht sich John Olday einige Zeit aus der aktiven Bewegung zurück, wird zu einem politischen Cartoonisten. Doch die faschistische Machtergreifung wirft ihn regelrecht wieder ins tägliche Geschehen. Hier nun setzt er seine zeichnerischen Qualitäten ein, illustriert antifaschistische Flugschriften, erfindet zusammen mit sozialrevolutionären Aktivist*innen Möglichkeiten, seine Cartoons durchs ganze Land zu schicken. Die Zeichnungen und die Texte werden verkleinert und als und in Gebrauchsanweisungen für Küchengeräte per Post verschickt.

John Olday begibt sich parallel dazu in ein waghalsiges Spiel. Seine nach außen getragene „künstlerische Exzentrik“ und seine Homosexualität bringen ihn immer wieder in Kontakt zu den höheren Kreisen der nationalsozialistischen Machthaber – die nutzen ihrerseits John Oldays Popularität als Zeichner aus, um den Schein der künstlerischen Freiheit unter dem NSRegime zu demonstrieren. Es ist ein Unternehmen, das für John Olday jeden Tag tödlich enden kann. Bis 1938 gelingt es ihm, viele Genoss*innen vor Verhaftungen und KZ-Deportationen zu bewahren. Doch die wachsende Gleichschaltung und die Diffamierungen zur „entarteten Kunst“ brachte ihn auf die Liste der Gestapo. Nur knapp kann er einem ihrer Kommandos entkommen, geht nach London, wo er ziemlich schnell Kontakt zu antimilitaristischen Kreisen findet und durch eine Sammlung von Zeichnungen („Reich der Lumpen“) die britische Öffentlichkeit über den deutschen Faschismus aufklärt.

Sein Aufenthalt im Land weckt Erwartungen von Seiten der britischen Regierung. Als sie ihn zum Kriegsdienst gegen die Deutschen zwingen will, taucht er unter. Mit Unterstützung der anarchistischen „Freedom“ Gruppe kann er im Londoner Untergrund seine antimilitaristischen Aktivitäten fortsetzen, in denen er zum einen für die anarchistische Zeitung „War Commentary“ scharfe satirische Karikaturen veröffentlicht, zum anderen gibt er zusammen mit Marie Louise Berneri und Vernon Richard eine Flugschrift für die britischen Soldaten heraus. Hier wird zur Errichtung von „Arbeiter-und Soldatenräten“ aufgerufen, ähnlich denen, die John Olday noch aus den kämpferischen Jahren in Hamburg kannte. Diese Agitation war so erfolgreich, dass sich die britische Kriegsindustrie und deren Regierung nur mit Verhaftungen von Anarchist*innen wehrte.

In dieser Zeit erregen die Zeichnungen „The March to death“. Darin entlarvt John Olday die Kollaboration herrschender Mächte bei der Unterdrückung ihrer jeweiligen Bevölkerung. Trotz verschiedener Machtsysteme erscheinen die Mechanismen der Manipulation ähnlich, die oft in kriegerische Konflikte münden und in „Todesmärschen“ der jeweiligen Bevölkerung.

1944 fliegt seine verdeckte Identität auf. Er wird verhaftet und nach einem achtmonatigen Gefängnisaufenthalt wegen Desertion in ein Straflager deportiert. Die Öffentlichkeitsarbeit der „Freedom Press Defense Comitee“, dem u.a. auch Herbert Read und George Orwell angehören, erreicht, dass er nach drei Monaten aus dem Lager entlassen wird.

Im August 1946 gelingt John von London aus mit deutschen Kriegsgefangenen die Gründung der „Internationalen Bakunin Gruppe“, deren Hauptaufgabe die Wiederbelebung der anarchistischen Gesellschaft vor allem in Deutschland sein soll.

„Unser Ziel ist die Vernichtung jeglicher Staatlichkeit und der Aufbau einer herrschaftsfreien Gütergemeinschaft auf der Basis des Rätesystems. Dies kann nur individuell und in kleinen Gruppen geführt werden, da wirklich revolutionäre Organisationen weder vom Staatskapitalismus noch vom Staatssozialismus geduldet werden.“

Sie plädieren für den Aufbau anarchistischer Zellen, die „wie ein Maulwurf an den Wurzeln des Staates“ nagen.
Und dadurch werde – so John Olday – der Anarchismus „wie ein Baum in die Breite wachsen und das Fundament des Staates unterhöhlen“. Jede Mitarbeit in öffentlichen Institutionen auch auf kommunaler Ebene wird als „reformistisch“ abgelehnt – dadurch begibt sich namentlich John Olday in strenger Abgrenzung zu Rudolf Rocker.

Die wenigen Anarchist*innen im kriegsverwüsteten und geteilten Deutschland sahen sich in einer Perspektivlosigkeit gefangen –sie wussten nicht was sie angesichts der gewaltigen Trümmer, die Teilung in Besatzungszonen und dem dadurch entstandenen Machtvakuums eines nicht vorhandenen Staates tun sollten.
In dieser Situation verfasste Rudolf Rocker aus den USA heraus seine Broschüre.

Er sieht in dem Land, das nun keine zentrale Macht mehr hat, eine Chance, eine neue Geschichte zu beginnen, um dem Erwachen eines neuen zentralen Staates entgegentreten zu können. Er plädiert für kommunale Selbstverwaltung, die beweisen sollte, dass es keiner übergeordneten Regierung bedarf und er sah dies im Sinne einer eher europäischen, dann irgendwann weltweit agierenden Föderation.

Nicht nur John Olday und die „Internationale Bakuningruppe“ lehnten eine kommunale Vertretung als „Kollektivkapitalismus“ ab.
Die vermeintlichen überschlauen Führer behindern die …Energieentfaltung der Massen bei der Befreiung von jedweder Knechtschaft. Solche Kurpfuscher können Taten nicht ersetzen. Eben sowenig kann der Föderalismus an die Stelle des Anarchismus treten. Es gibt nach wie vor ein Allheilmittel, nämlich die herrschafts-und eigentumslose Ordnung! Durch Mitarbeit in Gemeinden, Genossenschaften und Gewerkschaften ist sie gewiss nicht zu erreichen. Denn das sind Sumpfgebilde privat-oder kollektivkapitalistischer Herrschaft.“ (Willy Huppertz)

Huppertz wandte sich allerdings dann auch gegen den „Bolschewismus“ der Rätekonzeption von John Olday.

Dieser setzte die Notwendigkeit aller antiautoritären Sozialist*innen, Rätekommunist*innen und Anarchist*innen dagegen. In einer Art „Spartakusbund“ auf anarcho-kommunistischer Ebene – ohne interne Bürokratie oder starrer Disziplin. Jede illegale Zelle soll in eigenem Ermessen der jeweiligen Situation mit ihren Möglichkeiten agieren – das Ziel: die sofortige Zerstörung des Staates.

Es gelingt ihm in verschiedenen Ländern ein Netz dieser „Anarcho-Spartakisten“ zu initiieren, allein 60 Zellen bilden sich in Deutschland, die meisten davon in der von der Sowjetunion besetzten Zone – die aber ziemlich schnell von der stalinistischen Geheimpolizei blutig aufgelöst wurden.

Wir werden gefährliche Unruhestifter genannt, weil wir die bestehende Ordnung angreifen. Jawohl, wir sind gefährlich, sogar asozial und zerstörerisch. Denn wir wollen den Staat, der die Inkarnation von Gewalt und Vernichtung ist, mit Gewalt zerstören. Wir verweigern ihm jeglichen Gehorsam, weil der die Menschen ihres Rechts auf Selbstbestimmung beraubt. Wir erkennen keine Gesetze an, weil sie lediglich auf dem Recht des Besitzes beruhen. Wir beugen uns nicht der herrschenden Moral, weil sie lediglich die Reichtümer der Bevorrechtigtem schützt. Jedoch sind wir nur deshalb asozial, weil uns ein Gefühl der sozialen Gerechtigkeit treibt. Wir sind nur deshalb zerstörerisch, weil uns ein konstruktiver Instinkt leitet. Wir werden nicht aufhören, die Betrogenen zur Rebellion aufzureizen. Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder die Menschen zerstören den Staat, oder sie werden vom Staat zerstört.“

Doch schon bald, Ende 1948, taucht John Olday wieder ab. Zurück blieben seine klaren Abgrenzungen zwischen Etatismus und antiautoritärer Bewegung. Seine Aussage, alle Länder seien besetzte Länder, solange sie eine Regierung haben ist auch heute noch höchst interessant.

John geht nach Sydney, um dort an Kabaretts und Theatern eine bezahlte Arbeit zu finden. Ende der 60erJahre locken ihn die neuen sozialen Bewegungen wieder nach London.Er arbeitet bei den anarchistischen Zeitungen „Black Flag“ und „Freedom“ mit, engagiert sich als Räte-Anarchist bei den „Industrial Workers of the World“.
Er hält weiter Kontakt zu Emigranten und revolutionären Gefangenen, schreibt an Theaterstücken.

1977 stirbt er im Alter von 72 Jahren.