y yo accuso – und ich klage an.. Anarchismus und Revolution in Mexiko, Teil 2
Anarchismus in Mexiko, Teil 2
„Wer? Wer? Nadie, keine(r). Am nächsten Tag, nadie. Der Platz am Morgen gefegt. Die Zeitungen brachten als Hauptnachricht den Wetterbericht.
Und im Fernsehen, im Radio, im Kino gab es keine Programmänderung, keine eingeblendeten Nachrichten, keine Minute der Stille beim Bankett: Nun ja, das Bankett wurde fortgesetzt“ (Gedenkstein zum 2.Oktober 1968 in Mexiko D.F., Poem von Rosario Castellanos)
Eher „wohlwollende“ Repression ist das wohl zu nennen, was durch die Cardenasregierung nun wirklich passierte. Die CROM, zwischendurch in CGOCM (Confederación General de Obreros y Campesinos de México) umgewandelt, wechselte wiederum 1936 den Namen in CTM(Confederación de Trabajadores de México) um und wurde nun als die offizielle „neue Arbeiterbewegung“ sozusagen ernannt. Cardenas verstaatlichte 1938 größere Teile der Ölindustrie, um damit einen so genannten „Geist der nationalen Einheit“ zu schaffen, der es leichter machen sollte, aufständische Arbeiter niederzuhalten.
Einen weiteren eventuellen Aufstand der ländlichen Bevölkerung begegnete er mit einer „Neuverteilung“ des Landes. Selbstverständlich ließ er die großen Haziendas unangetastet, die Umverteilung bezog sich nur auf schwer zu bewirtschaftendes Land. Das Ergebnis war eine weitere Verarmung der Campesinos. Die auf Kurs gebügelte CTM und der neu gegründete CNC (Confederación National Campesina) entschärfte die Wut der Arbeiter und Bauern und kanalisierte sie in eine nationale Identität.
Ruben Jaramillo
der mit 15 in der „Südlichen Revolutionsarmee“ von Zapata kämpfte, organisierte 1943 zum ersten Mal einen Streik der Zuckerarbeiter in Zacatepeca. Er muss untertauchen und gründet in den Bergen eine Armee der Landarbeiter und Bauern, die bewaffnete Aufstände gegen die Regierung beginnen. Im Lauf der nächsten Jahre kam es trotz intensiver Bekämpfung durch die Armee( die sogar die Luftwaffe einsetzte) zu Landbesetzungen. Erst 1961 gelang es dem Militär, die „Jaramillistas“ endgültig zu besiegen.
Die Diazdiktatur war abgeschafft, es herrschte die Diktatur der Partei. die sich nun PRM nannte und die ihrer Funktionäre und Helfershelfer. Die Mitglieder der Partei, die 1948 in die PRI umbenannt worden war, die so genannten „ Säulen der Gesellschaft“, lebten gut.
Die PRI bedankte sich reichlich für ihre Kooperation , nicht nur durch Verleihung von Ämtern und Funktionen, sondern ließ sie auch teilhaben an den Einkünften aus der staatlichen Ölindustrie.
Dies führte zwischen 1958 und 1959 zu heftigen Arbeitskämpfen , die grössenteils wohl von den linken Oppositionsparteien , allen voran der verbotenen kommunistischen Partei initiiert worden war. Streiks der Minenarbeiter in Pachuga(Hidalgo), Monterrey(Nuevo Leon) und Tasco, der Textilarbeiter*innen in Puebla.
Die Mindestlöhne dieser Zeit waren sehr niedrig, Übergriffe von Paramilitärs und regulären Armeeeinheiten in den Provinzen alltäglich, was immer wieder bewaffneten Widerstand mit sich brachte. Viele zogen vom Land in die immer voller werdende Hauptstadt, oft bis zu 2000 Menschen am Tag. Mitte der 60erJahre war die Stadt auf 8 Millionen Menschen angewachsen, viele von ihnen erwerbslos bzw. für einen Hungerlohn in die Fabriken getrieben, eiligst gezimmerte Hütten dienten als Unterkunft.
Ab dem Sommer 1968 gingen vor allem von der Student*innenbewegung immer grösser werdende Proteste gegen den autoritären, undemokratischen Stil der PRI aus.
„Wir lebten in einem Mexiko mit einer Einheitspartei, mit gefälschten Wahlen, mit minimaler Meinungsfreiheit außerhalb der Universitäten. Wir Studenten waren zuerst nur eine kleine Gruppe innerhalb der Gesellschaft, die ganz konkret anfing, gegen dieses System, die wachsende Unterdrückung und für die Freiheit der vielen politischen Gefangenen zu protestieren.“
Sich in Mexiko politisch zu betätigen, ist sehr riskant. Alle sozialen Bewegungen wurden bisher niedergeschlagen. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden härter und blutiger – immer mehr Arbeiter*innen schlossen sich den Aufständischen an.
Wenige Wochen vor Eröffnung der Olympiade befürchteten die Machthaber einen Imageverlust und sprachen offiziell von einer „kommunistischen Verschwörung“ – gesteuert von Moskau und Havanna. Am 2.Oktober trafen sich die Aufständischen auf dem „Platz der drei Kulturen“ im Stadtteil Tlateloclo, der immer ein Platz für Kundgebungen war.
Ein Hubschrauber kreiste über den Platz, feuerte Leuchtkugeln ab. Das so genannte „Bataillon Olympia“ stürmte die Rednertribünen und warf sich auf die Redner*innen. Scharfschützen schossen gezielt von den umliegenden Dächern. Soldaten rund um den Platz feuerten auf alles, was sich bewegte, töteten so Demonstrant*innen, eingeschlossene Passanten, die nicht mehr rauskamen, richteten Mütter hin und ihre Kinder, die gerade vom Einkaufen kamen.
„Ich glaubte, daß am nächsten Tag, also am 3.oder 4.Oktober, die Menschen sich erheben würden, weil ihre Kinder ermordet worden waren – aber nichts geschah, gar nichts“ (Rosario Castellanos).
Der Liedermacher Jose de Jesus Molina Nunez, besser bekannt als Jose Molina, war einer der Überlebenden des 2.Oktober sowie des anschliessenden „Halconazo“ (s.u.). Er, der sich als libertärer Sozialist bezeichnet, schrieb unmittelbar danach das Poem: „Y yo acuso“
„Y yo acuso – und ich klage an
Ich klage die mit den korrekten Blicken an, die von Geburt an Schwachsinnigen, die meinen, sie stünden auf der Seite, der die Natur vergibt, die voller Inbrunst ihre Kannibalismus-Prophezeiung ausstoßen.
Ich klage die Mauern an, welche die Zukunft missdeuteten und die Angst verkörperten, die das steinige Licht der Haubitze mit den von jugendlichem Fleisch bedeckten Rücken vermählten.
Ich klage den Zement an, wo die Türen zum Tod sich mit dem Gesicht nach unten und die Terrassen, Friedhöfe der lebendig Begrabenen, sich trafen, und wo die Hirschgehege sich öffneten.
Ich klage das Massengrab an, die Öfen zur Feuerbestattung und die Frömmigkeit oberhalb der Augen.
Ich klage die Grube an, wie ein Wolf über der Hoffnung, und stets nur auf der Suche nach seinem vollkommenen Ebenbild.
Ich klage den zweiten Oktober an, der der zweite November Mexikos sein wollte.
Ich klage die Seiten der Tageszeitungen an, soll doch ein Gefängniswärter kommen, um die schwere, grausame Erinnerung zu verabschieden und diesen Zeitabschnitt von Neuem zu ordnen.
Ich klage die Pläne auf dem Schreibtisch an und den Lärm des Vollstreckungsstuhles, festgeschraubt am Hinterhalt und an der Verzweiflung.
Ich klage das trockene Steingebäude an, in dem das Wort des Gesetzes neu verfasst wurde, und der letzte Gedanke und der Schrei, der „ich bin der Verantwortliche“ sagte, und die Kehle, und die Zunge, und das Paar, das ihn hervorbrachte und möglich machte.
Ich klage die Liste der Verschwundenen an, die Geschosse, die Fahrzeuge, die Kühlhäuser, die Verwundeten mit ihrer Last, das Lager, das einst den Frieden bewachte und sich im Jahr 1968 in ein Konzentrationslager verwandelte.
Ich klage mein Land an, dafür, dass es seine Korps nicht wie geschärfte Messer geschleudert hat, und dafür, dass es Verletzte wie verwundete Schmetterlinge auf den Straßen verschuldet hat.“
„http://youtu.be/GAQnIA8J8JY“> („Yo acuso“, gesprochen von Leopoldo Ayala)
Es lag schon immer im Interesse der PRI, die Geschichte selbst zu schreiben und die Erinnerung daran unter Kontrolle zu halten.
Dieses „menschenfreundliche Ungeheuer“ schien nach dem Massaker im Oktober in eine tiefe Legitimitätskrise zu geraten – so dachten es jedenfalls die Intellektuellen in Mexiko und kündigten ihre Unterstützung für die PRI auf. Das korporatistische System hatte sie zwar auch gut versorgt, jetzt aber entdeckten sie so etwas wie ihre persönliche Schamgrenze.
Doch das Regime reagierte wie gewohnt. Der verantwortliche Minister für das Massaker auf dem „Platz der drei Kulturen“, Luis Echeverria Álvarez, wurde einfach zum nächsten Präsidenten von Mexiko gemacht und mit ihm ging die „guerra sucia“, der „schmutzige Krieg“ mit der „Halconazo“ 1971 weiter.
„guerra sucia“ – allgemeine Bezeichnung für die verdeckte, illegale Bekämpfung linker Opposition und Gegner*innen des Regimes. Praktisch äusserte sich das im Verschleppen, Foltern und Ermorden. Der Begriff wird allgemein in den beiden Massakern 1968 und 1971 gesehen, wobei 1971 hier zum ersten Mal eine bis heute existierende paramilitärische Organisation „Los halcones“ (die Falken) auftauchte (s.auch Atenco 2006).
Am 10.Juni 1971 stürmten die Paramilitärs der „Falken“ im Stadtteil Santo Tomás in Mexico D.F. eine Versammlung vorwiegend von Studentinnen und Studenten. Es gab 40 Tote.
Das Massaker ging als „Halconazo“ in die mexikanische Geschichte ein.
Diese beiden Ereignisse, der 2.Oktober 1968 und der „Halconazo“, trieben einige der Aktiven in den Untergrund, wo sie in einer maoistisch geprägten Guerilla ihre Kämpfe fortsetzten. 1974 war die Mehrzahl von ihnen gefangen und/oder ermordet.
Einige verschwanden in den lakandonischen Wäldern im Süden von Mexiko.